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Iacobus

Iacobus

Titel: Iacobus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matilde Asensi
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Mittag um Essen zu bitten. Zu unserer Überraschung stellten wir fest, daß es sich bei San Millán nicht um eines, sondern um zwei Klöster handelte: San Millan de Suso nannte sich das obere, San Millan de Yuso das untere. Durch einen kleinen Eichenwald stieg man zum weiter oben gelegenen Kloster de Suso hinauf, zu dem eine wirklich wunderschöne Kirche im westgotischen und mozarabischen Stil gehörte. Es war dies eine heilige Stätte, wie ich nur wenige in meinem Leben gesehen hatte. Dort hatte auch der berühmte Dichter Gonzalo gelebt, den man nach seinem Geburtsort Gonzalo de Berceo nannte. Er hatte die › Milagros de Nuestra Señora ‹ geschrieben, jene fünfundzwanzig Gedichte, in denen er beschrieb, wie die wundertätige Fürsprache der Heiligen Jungfrau die Gläubigen rettete und ihnen die Vergebung ihrer Sünden zuteil werden ließ. Er war aber auch der Schöpfer von so bekannten Werken wie den Heiligenviten › Poema de Santa Oria ‹ und › Vida de Santo Domingo de Silos ‹. Seine Berühmtheit verdankte er jedoch vor allem der Tatsache, daß er der erste war, der seine Werke in der romanischen Volkssprache und nicht auf Latein verfaßt hatte.
    Vom Portikus aus, in dem zahlreiche Sarkophage standen, betrat man die Kirche durch ein hufeisenförmiges Portal, dem gegenüber sich die Tumba aus schwarzem, wundervoll gearbeitetem Alabaster des heiligen Aemilianus Cucullatus befand. War man einmal in ihrem Inneren, sah man ein zweigeteiltes Kirchenschiff vor sich, das durch seltsame Säulenarkaden Zutritt zu zwei fast gleichen Kapellen gewährte.
    Doch hörten dort die zahlreichen Grabkammern der heiligen Stätte noch nicht auf: Zur Apsis hin gelangte man über eine Holztreppe zu den Mauerresten des ursprünglichen Klosters, welche die Höhlenklausen und Grabstätten der ersten Mönche bargen. Besonders eines jener Wandnischengräber fiel mir auf, da vor dessen Grabplatte große Sträuße frischer Blumen standen.
    »Wem gehört diese Nische?« fragte ich einen Benediktiner, der gerade vorbeiging.
    »Das ist die Klause, in die sich die heilige Oria eingemauert hatte. Sie ist neben San Millán unsere Kirchenpatronin.«
    »Wie, sich eingemauert hatte?« wollte Sara erschreckt wissen, die nur wenig mit bestimmten Sühnen und christlichem Martyrium vertraut war.
    Der Mönch tat so, als habe er sie weder gehört noch gesehen, und begann mir das Leben der heiligen Oria zu schildern, die 1052 im Alter von neun Jahren in Begleitung ihrer Mutter Doña Amuña nach Suso gekommen war. Wie es nur zu verständlich war, verspürte sie plötzlich den Ruf des Herrn, weshalb sie ihr Leben dem Gebet und der Buße weihen wollte. Jedoch wurde ihrem Wunsch, dort die Ordensgelübde abzulegen, nicht entsprochen, da es sich um ein Männerkloster handelte und es in jener Gegend nicht üblich war, daß Frauen ein einsiedlerisches Leben führten. Obwohl Oria weinte und inständig flehte, gab man ihrem Drängen nicht nach, woraufhin das Mädchen beschloß, sich lebendig in eine Felsnische in der Nähe der Kirche einzuschließen, wo ihre Gegenwart die Mönche nicht stören würde, die sie bis zu ihrem Tod zwanzig Jahre später nur mit Speis und Trank versorgten, die sie ihr durch eine winzige Fensterluke reichten.
    »Das ist die schrecklichste Geschichte, die ich je gehört habe!« rief Sara aus, als der Benediktiner höchst zufrieden den Hügel hinunterlief. »Ich kann nicht glauben, daß ein neunjähriges Mädchen darauf besteht, ihr ganzes Leben eingesperrt hinter Mauern zu verbringen. Da muß ihre Mutter dahinterstecken.«
    »Und wenn schon! Tatsache bleibt, daß sie sich einmauerte«, murmelte ich zerstreut, während ich aufmerksam die Wand vor der Klause betrachtete. Es war eine solide Mauer aus mit Mörtel zusammengefügten Steinen.
    War es Einbildung … oder sah ich da wirklich das, was ich zu sehen glaubte? Ich konnte meinen eigenen Augen nicht trauen. Langsam umschritt ich in einem Halbkreis die Mauer, um mir Gewißheit zu verschaffen.
    »Darf man erfahren, was Ihr da gerade tut?« forderte die Zauberin mit verbissener Miene.
    Mit strahlenden Augen wandte ich mich voll Begeisterung zu ihr um.
    »Kommt her! Du auch, Jonas! Stellt Euch hierher, ja, genau hierher und so, daß Ihr die Steine gut im Gegenlicht anschauen könnt. Was seht Ihr?«
    Sonst unsichtbar, außer im Gegenlicht und auch nur von einem bestimmten Punkt des Halbkreises aus – der kleinste Schritt zu einer Seite oder zur anderen bewirkte das Verschwinden der

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