Iacobus
la Calzada, und Jonas und ich beteten andächtig vor dem Grab des Heiligen, so wie es die Pilgertradition vorschreibt. Die Stille im Gotteshaus gab mir nach und nach meine innere Ruhe zurück. Jene kurze Trennung von Sara nutzte ich aus, um den Jungen über das Geschehene in Kenntnis zu setzen, der, nachdem er mir bis zum Schluß zugehört hatte, nachdenklich zu der Holzgalerie hinaufblickte, wo in einem Käfig ein weißgefiedertes Hühnerpaar zum Andenken an ein Wunder des heiligen Domingo eingesperrt war, der einst einen unschuldig Erhängten wiederauferstehen ließ. Dann senkte er den Blick und meinte:
»Leider muß ich zugeben, Sire, daß Le Mans nur ein einfacher Knecht Seiner Heiligkeit ist. Nach all dem, was wir von ihm wissen, ist er außerstande, etwas zu tun, was ihm sein Gebieter nicht zuvor befohlen hat. Gott möge mir verzeihen, wenn ich vom Papst schlecht denke …« – Warum hatte ich nur den Eindruck, daß er schon ein ganzer Mann und nicht nur ein junger Bursche war, als ich ihn so reden hörte? Was für ein Unterschied von einem Tag auf den anderen! Ich wünschte mir von ganzem Herzen, daß nach den ganzen Verwandlungen, welche der Übergang zum Mannesalter mit sich brachte, das Endergebnis so bewundernswert war wie das, was ich gerade vor mir hatte – »… aber ich glaube, daß der Graf nur das getan hat, was man ihm anordnete.«
»Was wieder einmal beweist«, führte ich seinen Gedankengang weiter, »daß wir bei diesem wenig ehrenwerten Unterfangen nur benutzt werden.«
In diesem Augenblick krähte der Hahn in seinem Käfig. Im Innern der Kirche wurde es laut. Verwundert sahen Jonas und ich uns an und blickten uns um, um eine Erklärung für das Gezeter zu finden. Ein alter lombardischer Pilger lächelte uns zu.
»Der Hahn hat gekräht!« erklärte er in seiner Sprache, wobei durch die wenigen Zähne, die er noch sein eigen nannte, reichlich Luft und Speichel entwich. »Alle, die ihn gehört haben, werden auf ihrer Wallfahrt mit Glück gesegnet sein.«
Am 21. September, dem Tag der herbstlichen Tag- und Nachtgleiche, verließen wir Santo Domingo über die steinerne Brücke über den Río Oja und wanderten Richtung Redecilla del Camino weiter.
Durch Belforado, Tosantos, Villambista, Espinosa und San Felices führte uns der Pilgerweg, der voller Pfützen und Steine war und unsere Ledersandalen ruinierte. Nachdem wir den Río Oca überquert hatten, erreichten wir bei Einbruch der Dämmerung müde, hungrig und schmutzig das Städtchen Villafranca de Montes de Oca, welches die westliche Grenze Navarras zum Königreich Kastilien bildete, wo laut unserem Pilgerführer Aimeric Picaud ›Gold, Silber und wertvolle Tuche reichlich vorhanden sind, ebenso Pferde, Brot, Wein, Fleisch, Fisch, Milch und Honig; es fehlt jedoch an Bäumen, und die Menschen sind schlecht und lasterhaft‹. Zu jener Zeit herrschte in Kastilien großer Aufruhr, und die Gegend war nicht gerade ungefährlich: Nach dem Tod König Fernandos IV. kam es zwischen seiner Mutter, Königin María de Molina, und den Infanten des Reiches (ihren eigenen Kindern und Schwägern) häufig zu Streitereien wegen der Regentschaft des minderjährigen Königs Alfonso XI. Diese Auseinandersetzungen entluden sich des öfteren in blutigen Zusammenstößen, die Hunderte von Toten in allen Winkeln des Reiches zur Folge hatten. In jenem September Anno Domini 1317 hatte sich die Lage jedoch etwas beruhigt, da ein Pakt in Kraft getreten war, gemäß dem sich Königin Maria die Vormundschaft mit den Infanten Pedro, Onkel des Königs, und Juan, Großonkel desselbigen und Sohn Alfonsos X. des Weisen, teilte.
Im Gegensatz zu dem, was unser Pilgerführer über die waldarme Gegend Kastilien berichtete, mußten wir am folgenden Tag zunächst einmal die bewaldeten Montes de Oca durchqueren, eine wenn auch kurze, so doch mühsame Wegstrecke, was es unumgänglich machte, in jener Nacht gut auszuruhen, um wieder zu Kräften zu kommen.
Im Pilgerhospiz des Klosters fanden wir Unterkunft, und da die Füße der armen Sara wie gefüllte Weinschläuche aussahen, so geschwollen waren sie, mußte ich ihr eine Salbe aus dem Knochenmark einer Kuh und frischem Schmalz rühren.
»Seht Ihr?« bemerkte sie drollig. »Mir sind die Füße gewachsen.«
Da ihre Rückenschmerzen es ihr nicht erlaubten, die Salbe selbst aufzutragen, befahl ich Jonas, Sara zu helfen. Ich brachte den Jungen damit in eine mißliche Lage; er errötete bis in die Haarspitzen und begann trotz der
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