iBoy
meine Wange zu streicheln, konzentrierte ich mich fest darauf, ihr keinen Stromschlag zu versetzen. Ich weiß nicht, wie ich das machte, doch es schien zu klappen. Sie schrie weder auf, noch zog sie blitzartig ihre Hand zurück oder so was.
»Bist du sicher, dass es dir gut geht?«, fragte sie.
»Ja …«
»Ehrlich?«
»Mit mir ist alles okay, Gram.«
»Na gut, aber wie gesagt, pass auf dich auf, ja?«
»Ja«, versprach ich ihr und zog die Jacke über. »Bis später. Dauert nicht lange.«
»Hast du dein Handy dabei?«
»Äh, ja … ja, mein Handy hab ich.«
|51| Als ich in den Fahrstuhl stieg, standen zwei Typen drin. Der eine war ein noch ziemlich junger Schwarzer aus dem Baldwin House, dessen Namen ich nicht kannte, der andere hieß Davey Carr. Davey wohnte im siebenundzwanzigsten Stock und auf der Grundschule war er mein bester Freund gewesen. Damals waren wir ständig zusammen – in der Schule, auf dem Spielplatz, an den Gleisen und auf den unbebauten Grundstücken. Davey war echt in Ordnung gewesen. Aber vor ein paar Jahren hatte er dann angefangen, mit ein paar von den Crows rumzuhängen, meist älteren Jungs. Er hatte versucht, mich zu überreden, dass ich mitkam, aber ich sah nicht ein, was das bringen sollte, und so trennten sich eben unsere Wege.
»Hey, Tom«, sagte er, als ich einstieg. »Alles okay?«
»Ja … und bei dir?«, fragte ich, während ich den Knopf für das dreißigste Stockwerk drückte.
Er nickte lächelnd, guckte aber ein bisschen ängstlich dabei.
Ich nickte dem andern Jungen zu. Der starrte zurück, schniefte und schaute dann weg.
Die Türen des Fahrstuhls gingen zu.
Davey grinste mich an »Was treibst du, Tom? Hast du was Aufregendes vor?«
»Ich besuch Lucy.«
Sein Grinsen verschwand. »Ach so?«
»Ja … hast du ’ne Ahnung, wer das war?«
»Wer was war?«
»Sie ist vergewaltigt worden, Davey. Und Ben haben sie zusammengeschlagen. Ich hab bloß gedacht, vielleicht weißt du was drüber.«
Er schüttelte den Kopf. »Wieso sollte
ich
was darüber wissen?«
|52| Ich starrte ihn nur an.
»Nein«, sagte er und schüttelte wieder den Kopf. »Nein, ich hab keine Ahnung … ehrlich. Ich war nicht mal –«
»Hey«, sagte der schwarze Junge zu ihm. »Du musst ihm
gar
nichts erzählen. Sag ihm, er soll sich verpissen.«
Ich sah den schwarzen Jungen an.
Der Fahrstuhl stoppte.
27. Stock.
Der schwarze Junge grinste mich an. »Was ist? Wieso glotzt du so?«
Die Türen gingen auf.
Ich klinkte mich in sein Handy ein, das er hinten in der Tasche hatte, und im nächsten Moment – einem absolut zeitlosen Moment – hatte ich alles runtergeladen und gescannt, was drauf war. Namen, Telefonnummern, SMS, Fotos, Videos … alles.
»Du bist Jayden Carroll, stimmt’s?«, sagte ich, als er mit Davey den Fahrstuhl verließ.
»Ja und?«, antwortete er.
»Hast du die SMS beantwortet, die du gestern Abend von Leona gekriegt hast?«, fragte ich lässig und drückte den Knopf, um die Tür zu schließen. »Du weißt schon, die, in der sie fragt, ob du sie liebst.« Ich lächelte ihn an. »Lass sie besser nicht zu lange auf eine Antwort warten.«
»Verdammte Scheiße, was –?«, fing er an, aber die Fahrstuhltür schloss sich und ich fuhr weiter nach oben in den dreißigsten Stock.
Ich wusste, es war bescheuert, so was zu tun, ihn zu provozieren. Ich wusste, es war sinnlos und irgendwie armselig. Aber das war mir egal. Es gab mir ein gutes Gefühl. Und das war das einzig Wichtige in diesem Moment.
|53| Lucys Wohnung lag ganz am Ende des Flurs, und auf dem Weg dorthin merkte ich erst, wie nervös ich war. Zu Lucy zu gehen machte mich immer ein bisschen nervös, aber heute war es anders. In dieser Nervosität lag Angst, die Angst vor etwas Unbekanntem. Was sollte ich zu ihr sagen? Was
konnte
ich sagen? Wie würde sie sein? War sie überhaupt bereit, mich zu sehen? Ich meine, wieso sollte sie? Was war besonders an mir? Was konnte ich ihr schon bieten?
Ich blieb vor der Wohnungstür stehen.
Das Wort
NUTTE
war in leuchtend roter Farbe auf die Tür gesprayt. Ich stand eine Weile davor und starrte bloß dieses hässliche Geschmier an, und für einen Augenblick wurde ich wütender als je zuvor. Ich wollte jemanden verprügeln, jemandem richtig
weh tun
… Ich wollte herausfinden, wer das gewesen war, ihn vom Hochhaus werfen …
Mein Kopf tat weh.
Die Wunde pochte.
Ich schloss die Augen, atmete langsam, beruhigte mich …
»Scheiße«,
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