iBoy
reden.
aGirl
Lucy war gerade online, deshalb schrieb ich gleich zurück:
nein, alles in ordnung, du hast mich nicht vertrieben. ich hatte nur was zu tun. jetzt bin ich wieder da. also, wie geht’s dir? du klingst nicht mehr so down wie letztes mal. läuft’s jetzt ein bisschen besser für dich?
hallo, iBoy. ich bin froh, dass du zurück bist. nein, es läuft nicht wirklich besser für mich, und ich glaube auch nicht, dass es das je tun wird. aber ich fühl mich nicht mehr so leer und tot. ich glaube, es hilft einfach zu reden. mit dir zu reden natürlich. und ich habe einen freund, er heißt tom, der sehr nett ist und mir zuhört. darf ich dich was zu dem jungen fragen, den du beinahe aus dem fenster gestoßen hast? weißt du, was er mit mir gemacht hat?
ja.
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hattest du wirklich vor, ihn rauszustoßen?
keine ahnung. was würdest du sagen, wenn meine antwort ja wäre?
weiß nicht. einerseits denke ich, er verdient es zu sterben, aber andererseits finde ich, nein, das ist nicht richtig. verstehst du, was ich meine?
ja, ich verstehe genau, was du meinst.
lass uns über was anderes reden.
okay. und worüber?
wo bist du?
ich sitze im himmel.
ja, klar. wie heißt du mit richtigem namen?
das sag ich dir, wenn du mir von tom erzählst.
was willst du denn wissen?
gehst du mit ihm?
nein. ich kenn ihn bloß schon ewig, wir sind zusammen aufgewachsen. wir haben nichts miteinander, er ist einfach ein guter kumpel. ich mag ihn sehr und ich denke, er mag mich auch. aber ich glaube nicht, dass er mich auf
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diese weise mag. er kümmert sich nur um mich. und ich kümmere mich auch um ihn. ich glaube, er ist oft ziemlich traurig.
vielleicht mag er dich ja mehr, als du denkst. vielleicht weiß er nur nicht, wie er’s dir sagen soll.
vielleicht … wieso fragst du überhaupt?
nur so. ich war einfach neugierig.
okay, damit habe ich deine fragen beantwortet, jetzt beantworte du meine. wie heißt du mit richtigem namen?
das weißt du doch längst.
bis später.
iBoy
Ich schaltete mich ab, öffnete die Augen und stand vorsichtig auf. Noch ein letztes Mal schaute ich über den Rand des Dachs, dann drehte ich mich um und ging wieder zurück.
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Wenn ich verdammt wär an Leib und Herz,
ich wüsste, wessen Gebete mir nähmen den Schmerz …
Rudyard Kipling
Mother O’ Mine
(1891)
Gram war im Wohnzimmer und schaute fern, als ich nach Hause kam. Sie sah so blass und erschöpft aus wie immer – das Gesicht zu schmal, die Augen zu müde, die Haut zu faltig für ihr Alter. So alt war sie eigentlich noch gar nicht – letztes Jahr vierundfünfzig geworden –, doch ihr Leben war nicht einfach gewesen. Sich jahrelang mühsam durchschlagen zu müssen, kostete seinen Preis.
Die meiste Zeit ihres Lebens war sie auf sich gestellt gewesen.
Genauso wie ich meinen Vater nicht kannte, hatte auch meine Mum ihren nicht gekannt. Ihr Vater war genauso abwesend wie meiner. Das heißt, Gram hatte fast ihr ganzes Erwachsenenleben als alleinstehende Mutter oder Großmutter verbracht – erst hatte sie ihre Tochter ohne Vater großgezogen und dann den Sohn ihrer toten Tochter. Und das alles, während sie gleichzeitig den Lebensunterhalt mit einer Arbeit verdiente, die ihr nicht viel einbrachte und keinen Spaß machte.
|149| Sie hatte also ein Recht darauf, ein bisschen erschöpft auszusehen, fand ich.
»Hey, Gram«, sagte ich und setzte mich neben sie. »Was guckst du?«
»Bloß die Nachrichten«, sagte sie, stellte den Fernseher stumm und lächelte mich an. »Wie geht’s Lucy?«
»Ganz okay, glaub ich … also mehr oder weniger okay, du weißt schon …«
Gram nickte. »Und wie steht’s mit dir? Was macht dein Kopf?«
»Alles okay … keine Probleme.«
»Bist du sicher?«
»Ja …«
»Keine Schwindelgefühle oder so?«
»Nein.«
(Nur eine Welt aus Staunen und Irrsinn.)
»Tut dir dein Kopf weh?«
»Nein.«
(Er schwirrt nur vor lauter Telefongesprächen und Mails und SMS und Websites …)
»Und du hast in letzter Zeit auch keine Stimmen gehört?«
Ich sah Gram an. »Was?«
Sie lächelte. »War nur ein Witz, Tommy.«
»Ach so …«, sagte ich. »Sehr komisch.«
Sie legte ihre Hand auf mein Knie. »Ich bin froh, dass mit dir alles in Ordnung ist, Schatz. Wirklich. Ich hab mir solche Sorgen gemacht, als du im Krankenhaus warst … weißt du, ich dachte … ich
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