Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
iBoy

iBoy

Titel: iBoy Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kevin Brooks
Vom Netzwerk:
Lane   –«
    »Einen Moment, Sir. Ich brauche Ihren   –«
    »Im Erdgeschoss, Nummer 6, Baldwin House«, wiederholte ich. »In der Crow-Lane-Siedlung. Jemand wurde erschossen.«
    Ich legte auf.
     
    |169| Die Feuertür führte auf die Rückseite vom Baldwin House – eine Betonwüste voller Unkraut, Mülltonnen, kaputter Spritzen und Hundescheiße – und von dort lief ich nach Süden, weg von dem Hochhaus, einen sanften Grashang hinab bis zu einem Trampelpfad, der mich entlang einer Senke in den Wiesen zurück zum Compton House führte.
     
    Bis ich wieder in die Wohnung und auf Zehenspitzen in mein Zimmer geschlichen war, hatte die Notrufzentrale die Polizeibeamten, die wegen des brennenden Autos gekommen waren, alarmiert, dass es in der Wohnung Nummer 6 im Baldwin House möglicherweise eine Schießerei mit Todesfolge gegeben hätte. Die Polizisten hatten den ganzen Bereich abgesperrt und warteten auf weitere Beamte und eine bewaffnete Eingreiftruppe.
    Während ich mich auszog und völlig entkräftet ins Bett sank, fragte ich mich, was die Polizei wohl denken würde, wenn sie O’Neils Wohnungstür einschlug und feststellte, dass es keine Leiche und keinen Mord gab, sondern nur drei etwas ramponierte Drogendealer, allesamt gefesselt, und eine Wohnung voller Drogen und Waffen.
    Würde es die Bullen kümmern, dass sie einen falschen Tipp bekommen hatten?
    Kümmerte mich, was sie dachten?
    Keine Ahnung.
    Es war mir egal.
    Ich legte mich in die Dunkelheit und versuchte nachzudenken – über mich und über das, was ich gerade getan hatte, über meine Gewaltbereitschaft, meine Wut, meine Grausamkeit. Aber ich fand in meinem Innern keine Gefühle zu alldem. Ich wusste, dass ich es getan hatte, ich wusste, dass es einen |170| Grund dafür gegeben hatte, und ich wusste, dass ich – auch wenn dieser Grund berechtigt war – ein
gewisses
Maß an Scham, Reue, Schuld oder so ähnlich hätte empfinden müssen   …
    Aber da war nichts.
    Es gab überhaupt keine Empfindungen.
    Nur mich und die Dunkelheit   …
    Und iBoy.
    Uns.
    Mich.
    Und i.
    Wir lagen da in der Stille und dachten über uns nach. Was taten wir? Und wieso? Was versuchten wir zu erreichen? Und wie? Was war unser Zweck, unser Plan, unser Ziel, unser Wunsch?
    Was war unser
Grund
?
     
    Das Herz hat seine Gründe, die der Verstand nicht kennt.
     
    Blaise Pascal (1623   –   1662)
    http://de.wikiquote.org/​wiki/​Blaise_Pascal
     
    Es war 04:48:07   Uhr.
    Ich schloss die Augen und wartete darauf, dass die Sonne aufging.

|171| 10001
    Der Fugue-Zustand ist eine dissoziative Gedächtnisstörung, die gekennzeichnet ist durch einen veränderten Bewusstseinszustand und eine Absonderung der betroffenen Person von den fundamentalen Aspekten ihres Alltagslebens, etwa der eigenen Identität und der eigenen Geschichte. Häufig durch ein traumatisches Lebensereignis ausgelöst, ist der Fugue-Zustand meist nur von kurzer Dauer (zwischen Stunden und Tagen), kann aber auch über Monate und noch länger anhalten. Die dissoziative Fugue schließt gewöhnlich ungeplantes Fortgehen oder Umherirren ein und wird häufig begleitet vom Aufbau einer neuen Identität.
     
    Ich weiß, was in den nächsten etwa zehn Tagen geschah. Ich weiß, was ich getan habe, und war mir auch völlig bewusst, was ich tat. Ich war da. Ich war ich. Ich wusste genau, was ich tat und wieso.
    Aber wenn ich jetzt versuche, mir die Tage in Erinnerung zu rufen (ohne Hilfe meines iGedächtnisses), sind da nur Bruchstücke, die nicht zu mir zu gehören scheinen.
    Fragmente.
    Schnappschüsse.
    Unzusammenhängende Momente.
     
    |172| … in meinem Zimmer, ich sitze auf dem Fußboden unter dem offenen Fenster. Die Strahlen der Nachmittagssonne strömen mir über den Kopf und bringen Staubteilchen zum Leuchten. Meine Augen sind geschlossen und mein iHirn brummt von abertausend Millionen Wörtern. Es lauscht Anrufen. Liest E-Mails und SMS.   Es sucht die Unterwelt der Crow Town nach allem ab, was es verwenden kann, nach Belastungsmaterial   … Namen, Orten, Zeiten   … einfach allem.
    Es ist ein Gott, der alles sieht und alles hört.
    Es ist nicht ich.
    Es ist ein automatisiertes Polizeispitzel-Programm: Es hört Funkwellen ab, scannt Wörter, findet die Schurken – die Diebe, die Dealer, die Straßenräuber, die Schmuggler, die Krieger, die Schützen, die Schieber. Es spürt sie alle auf und verrät sie automatisch an die Bullen.
    Alle.
    Das Programm in meinem iHirn kümmert sich nicht darum, wer die

Weitere Kostenlose Bücher