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iBoy

iBoy

Titel: iBoy Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kevin Brooks
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Ist
dir
schwindelig?«
    »Du kennst mich doch«, sagte ich und ließ mich mit verschränkten Beinen auf dem Boden nieder. »Tommy, der Feigling.«
    Sie lächelte und setzte sich neben mich, dann saßen wir eine Zeit lang schweigend da und schauten über die Siedlung hinweg auf die fernen Lichter von London. Straßenlaternen, Verkehrsampeln, Scheinwerfer   … Bürogebäude, Hochhäuser, Läden und Kinos   …
    Es war alles weit weg.
    »Ist das da drüben das London Eye?«, fragte Lucy nach einer Weile.
    »Wo?«
    Sie deutete in die Ferne. »Da   … am Fluss.«
    Ich sah es nicht und für einen kurzen Moment überlegte ich, mich im Kopf in Google Earth einzuloggen, um es leichter zu finden   … aber das war iKram und iKram gehörte hier nicht hin. Also ließ ich es sein.
    |230| »Ich seh noch nicht mal den
Fluss
«, erklärte ich Lucy. »Geschweige denn das London Eye.«
    Sie lächelte, aber ich merkte, dass sie in Gedanken schon woanders war. Sie schaute nicht mehr in die Ferne, sondern auf die unmittelbare Umgebung der Siedlung, sah die Straßen an und die anderen Hochhäuser, die niedrigen Gebäude, den Kinderspielplatz   …
    »Komisch, oder?«, sagte sie leise und ihre Stimme klang traurig.
    »Was ist komisch?«
    »Zu wissen, dass sie alle irgendwo da unten sind   … du weißt schon, die Jungs, die mich vergewaltigt haben. Sie sind alle da   … leben ihr Leben, tun, was sie eben so tun   …« Sie atmete müde aus. »Ich meine, sie sind alle einfach da
unten
…«
    »Ein paar werden wohl eher im Gefängnis sein«, sagte ich. »Oder im Krankenhaus.«
    Lucy sah mich mit tränenfeuchten Augen an. »Du
weißt
es, stimmt’s?«, sagte sie. »Du weißt, wer es war.«
    Ich nickte. »Bei den meisten zumindest.«
    »
Woher
weißt du es?«
    Ich zuckte die Schultern. »Du kennst das doch, die Leute reden   … du hörst Gerüchte. Es ist nicht allzu schwer, die Wahrheit rauszufinden.«
    »Die Wahrheit   …?«, sagte sie mit kaum hörbarer Stimme. »Ich bin die Einzige, die die
Wahrheit
kennt.«
    Als sie von mir wegsah und wieder runter auf die Siedlung starrte, hätte ich mir in den Hintern treten können. Wie konnte ich nur so dämlich sein? Natürlich hatte ich nicht andeuten wollen, ich wüsste, was sie durchgemacht hatte, aber trotzdem   … es war einfach gedankenlos gewesen, so etwas Hirnverbanntes zu sagen.
    |231| Ich war wirklich ein Idiot.
    »Tut mir leid, Tom«, sagte Lucy.
    Ich sah sie an, nicht sicher, ob ich sie richtig verstanden hatte. »Was?«
    »Ich weiß, dass du es nicht so gemeint hast   … und ich wollte dich auch nicht angiften   –«
    »Nein, bitte«, sagte ich. »Ich bin doch der, der sich entschuldigen sollte. Nicht du. Ich hab einfach nicht nachgedacht   … einfach nur mein dämliches Mundwerk zu weit aufgerissen und   –«
    »Du hast kein dämliches Mundwerk.«
    Ich starrte sie an. Sie lächelte wieder.
    »Schon gut«, sagte sie. »Okay?«
    »Okay.«
    »Gut.«
    Dann schwiegen wir wieder eine Weile und schauten nur, betrachteten die Lichter, den Himmel, die Sterne in der Dunkelheit. Ich hörte, wie der Nachtwind seufzte, und es klangen ein paar schwache Geräusche aus der Siedlung herauf – Autos, Stimmen, Musik   –, aber alles in allem war es ziemlich still. Und selbst die Geräusche,
die
in die Stille brachen, schienen keine Bedeutung zu haben.
    Sie waren nur Geräusche.
    »Macht es für dich einen Unterschied?«, fragte ich Lucy leise.
    Sie sah mich an. »Was macht für mich einen Unterschied?«
    »Was dieser iBoy getan hat   … oder wer immer es tut. Du weißt schon, O’Neil, Adebajo und die andern leiden zu lassen   … ich meine, fühlst du dich dadurch besser?«
    Eine Weile antwortete sie nicht, sondern starrte mich nur an, und für einen kurzen Moment dachte ich, sie würde sagen: |232|
Du bist das, stimmt’s? Du   … du bist iBoy,
und ich fing an, mich zu fragen, wie ich mich dann fühlen würde. Gut? Verlegen? Beschämt? Aufgeregt? Und daraus folgte die Frage, ob ich mir nicht vielleicht
unterbewusst
sogar wünschte, sie würde wissen, dass ich iBoy, ihr Schutzengel war   …
    »Ich weiß es nicht, Tom«, sagte sie traurig. »Ich weiß wirklich nicht, ob es für mich einen Unterschied macht. Ich meine   … klar ist da was in mir drin, das sie leiden sehen will.   … du weißt schon, ich
will
, dass es ihnen so richtig beschissen geht   … ich will, dass ihnen jemand wehtut, verdammt noch mal   … weil sie es verdient haben   … Scheiße noch

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