iBurn-out - Zeit fuers Wesentliche
meiner Stirn herunter und suchte sich den direkten Weg ins Auge. Es brannte. Ich blieb stehen, um mir mit einem Zipfel des T-Shirts den Schweiß aus dem Auge zu reiben. Erst durch das unangenehme Brennen hatte ich bemerkt, wie schnell ich den steilen Weg hochgegangen war. Mein Blick fiel auf meine Brust. Das T-Shirt hatte sich dort schon dunkel verfärbt und klebte am Körper. Mein Brustkorb hob und senkte sich rasend wie ein Blasebalg. Jetzt, wo ich stillstand, lösten sich noch mehr Schweißtropfen aus den Poren. Sie liefen in Strömen von meiner Stirn herunter.
Ich konnte es selbst bei der simplen Sache wie dem Brötchenholen nicht abstellen. Ich hatte einen Punkt angepeilt und war energisch darauf losgestürmt. Das Ziel war auch exakt das Ziel gewesen, mit der klaren Aufgabe des Einkaufs. Dabei war die Schönheit der Umgebung an mir vorbei gezogen, ohne mir bewusst aufzufallen. Wie denn auch, bei meinem Tempo. Ich war mit schnellen Schritten die Stufen hochgesprungen und hatte mich auf den Weg konzentrieren müssen. Der Blick war meistens auf den Gehweg gerichtet gewesen, um nicht ins Stolpern zu geraten. Ich war auch ohne Zeitdruck, Verpflichtungen oder Termine wieder in Eile gewesen. Noch nicht einmal der Hunger auf ein Frühstücksbrötchen drängte mich. Die antreibende Peitsche hielt ich selbst in den Händen.
Als ich nun stehenblieb, sah ich die farbenprächtigen Blumen in den Vorgärten blühen. Die Vögel zwitscherten in einer auffallenden Lautstärke in den Bäumen. Und die Motorengeräusche der Containerschiffe auf der Elbe drangen neben Alltagsgeräuschen wie das Klappern des Geschirrs an mein Ohr. Erst jetzt, nachdem ich stehengeblieben war, konnte ich meine Umgebung mit Aufmerksamkeit betrachten, bemerkte ich verblüfft.
Durch meine Gesprächstherapie hatte ich herausgefunden, dass sich das zügige Tempo meines Leben verselbständigt hatte. Für mich standen Schnelligkeit und Zeit gleichermaßen für die Bedeutung von VIEL. Viel wurde immer mit positiven Werten assoziiert. Wenn ich etwas schneller erledigte, blieb mehr Zeit für etwas anderes übrig, lautete meine gedankliche Rechnung. Im Job sowieso, aber auch in meiner Freizeit geriet ich in den Geschwindigkeitsrausch.
Wenn etwas gemächlich ablief, dann setzte ich es häufig mit Unproduktivität gleich: Wenn ich beispielsweise einen schlendernden Fußgänger vor mir hatte, der mich durch seine Langsamkeit ausbremste, wollte ich ihn am liebsten anschieben. Ich regte mich innerlich auf, wenn sich eine Kundin beim Bäcker die Zutaten jedes einzelnen Kuchens beschreiben ließ. Ich wollte der Oma im Supermarkt gern selbst ins Portemonnaie greifen, wenn sie ihr gesamtes Münzgeld auskippt, nur um sie schneller von der Kasse wegzubekommen. Ich unternahm nichts dergleichen, aber ich dachte daran.
Plätscherte die Zeit dahin, wenn ich wenig erlebte, dann wurde es automatisch mit Negativem verbunden. Diesen Zustand durfte es in keiner Sekunde des wertvollen Lebens geben.
Ich ahnte, dass es vielen Leuten erging wie mir. War aus diesem Grund der Ausdruck »Müßiggang« aus unserem Wortschatz verschwunden? Ich war in der letzten Woche beim Lesen eines Textes selbst wieder auf diesen Begriff gestoßen, der so gar keine Rolle mehr in meinem Leben spielte. Denn Muße war die Zeit, die nach dem eigenen Wunsch zur Verfügung stand, die aufbauend wirken sollte und fern von Fremdinteressen gestaltet war. Es sollte ein Ausleben ohne Pflichten sein: etwas genießen, sich erfreuen oder das reine Nichtstun zelebrieren. Jeder interpretierte es jedoch unterschiedlich, je nachdem welche individuellen Bedürfnisse vorlagen. Bereits die Denker der Antike hatten die Muße als charakterbildend und wertvoll angesehen, hatte ich durch den Artikel erfahren.
In unserer gestressten Gesellschaft rutschte dieses alte Wissen anscheinend unabänderlich in die Vergessenheit. Wie soll man auch etwas vermissen, das nicht zuvor verinnerlicht wurde?
Die Idee der Muße wird heute immer mehr in eine Wellnessecke oder Gesundheitsförderung gedrängt, in der sich der Gestresste einige Stunden Entspannung gönnt. Hier soll die Erholung von spezifischem Stress oder körperlicher Belastung erreicht werden. Dadurch entfernt sich das Müßiggehen immer weiter von seinem Kern und wird stattdessen wieder mit einem Ziel verbunden.
Ich wusste auch nicht mehr, wann ich das letzte Mal durch das Treppenviertel geschlendert war, um einfach die Gedanken schweifen zu lassen. Ohne Ziel. Einfach den
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