iBurn-out - Zeit fuers Wesentliche
ich im Stillen. Das schnelle Tempo der Arbeit konnte ich nie, weder am Wochenende noch in der Anfangszeit eines Urlaubs abrupt abbremsen. Manchmal schaffte ich es, die Geschwindigkeit ein wenig zu drosseln.
Aber nicht nur das Arbeitsleben war rasant; auch das gesamte Lebenstempo in Hamburg unterlag einer ständigen Beschleunigung. Dreihundertfünfundsechzig Tage im Jahr.
Birte schob ihre Hand in meine Richtung über den Tisch. »Wir haben ja noch die Kurve gekriegt. Leider spät, aber noch nicht zu spät.«
Ich kam ihr mit meiner Hand auf halber Strecke entgegen, bis sich unsere Finger ineinander verknoteten. Wir schauten uns nur an.
Ich musste an ihre Beschreibung während der damaligen Autofahrt zurückdenken, in der sie unser Leben mit einem Karussell verglichen hatte: Wir, die Fahrgäste, drückten uns im Adrenalinrausch in die Sitze und verloren allmählich die Kontrolle. Das Karussell hatte sich langsam zu drehen begonnen und fuhr immer schneller. Die Welt außerhalb des Karussells zog verschwommen an uns vorbei. Nur kurze Verschnaufpausen waren uns zum Durchatmen gegönnt. Bis der Mann am Schaltpult ins Mikrophon brüllte »Wollt ihr noch meeeeehr?« Dabei drückte er bereits die Tasten zum Abheben, ohne auf unsere Antworten zu warten. Immer und immer wieder.
Langsam kam ich dahinter, was Birte mit dem Vergleich gemeint hatte. Ich sollte das rasante Karussell verlassen, solange es noch ging. Mir wurde vom schnellen Tempo nicht übel, im Gegenteil, ich genoss es. Ich mochte den Geschwindigkeitsrausch. Aber gerade dieser Rausch machte das Überschreiten einer unsichtbaren Grenze über das gesunde Maß so leicht.
Ich musste nie kotzen, aber mein Burn-out war auch eine Form des Erbrechens. Ich hatte es verstanden, den Reiz über einen längeren Zeitraum zu unterdrücken. Alles blieb lange im Inneren verborgen.
Mir wurde klar: Körper, Geist und Seele hatten Tempolimits. Und dazu auch noch unterschiedliche!
Ingo Tempo Zeit Patagonien Magellanstraße Gletscher Frachtschiff Feuerland Lebenszeit Entschleunigung Langsamkeit Intensität Zeitempfinden | Zeit fürs Wesentliche Chile Spätsommer Südhalbkugel
Z wei Jahre war es her, seit wir Hamburg verlassen hatten. Viele tausend Kilometer lagen zwischen dem nördlichsten Punkte unserer Reise in Alaska und unserem jetzigen. Wir waren im südlichsten Teil dieses gewaltigen Kontinents, im chilenischen Patagonien, angekommen.
Die Chilenen beschrieben ihr gesamtes Land unspektakulär mit »largo y flaco«, lang und dünn wie eine Bohnenstange. Dabei assoziierten die meisten Ausländer Chile mit dem südlichsten Landstrich der Bohnenstange, nämlich mit dem rauen Patagonien. Es stand für unbändig und ungezähmt. Das feuchte, kühle Klima auf der westlichen Seite der Anden brachte Einzigartiges für Naturliebhaber hervor. Es war packend für Abenteurer und herausfordernd für Extremsportler. Andere folgten auch nur ihrer unbegründeten Sehnsucht, am südlichsten Zipfel des südamerikanischen Kontinents gewesen zu sein. Die Besucher wurden mit unterschiedlichsten Sehnsüchten, Erwartungen und Träumen angelockt.
Die Wetterlage im rauen Teil Patagoniens wechselte im Minutentakt. Wolken wirbelten aufgequollen und manchmal bedrohlich am Himmel umher. Regentropfen fielen nicht einfach senkrecht vom Himmel, sondern stoben durch den Wind vorangetrieben waagerecht durch die Luft. Wege und Pisten wurden unsanft von Regenmassen ausgewaschen und glichen alten Waschbrettern. Selbst wenn ausnahmsweise kein Sturm herrschte, wirkte die Vegetation wie im Windkanal erstarrt. Die Äste der Bäume hatten sich nach dem geringsten Widerstand ausgerichtet oder wuchsen regelrecht verkrüppelt und geduckt entlang des schützenden Bodens.
Wir befanden uns schon mitten im chilenischen Landschaftstraum, aber wollten uns noch einen persönlichen erfüllen. Wir quartierten uns auf einem Frachtschiff ein. Es fuhr wöchentlich von der südlichsten Stadt auf diesem Kontinent von »Punta Arenas« nach »Puerto Williams« zur südlichsten Stadt der Welt auf der Insel Navarino. Das aber interessierte uns wenig. Wir brauchten keine weiteren Superlative auf der Reise für unsere gedankliche Hutnadelsammlung oder als Metallplakette für den Wanderstock. Der beeindruckende Weg zu dieser entlegenen Stadt war unser eigentliches Ziel: auf der Magellanstraße Richtung Südosten an der feuerländischen »Cordillera Darwin« entlang in den Beagle Kanal nach Puerto Williams, die Hauptstadt der
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