iBurn-out - Zeit fuers Wesentliche
darin suhlen und leben durfte. Und dennoch, was zu viel war, war zu viel!
Joan schnappte sich einen überdimensionalen Einkaufswagen. Mit einem »Bis gleich« verschwand sie zielstrebig zwischen den Regalen.
Wir griffen uns einen zweiten XXL-Einkaufswagen. Auf dem Boden aufgeklebte Produkthinweise markierten uns den Weg zu den Sonderangeboten. Gelbe Warnschilder »slippery when wet« oder im Weg stehende Produktpaletten mussten im Slalom umrundet werden.
Den Live-Musiker im Supermarkt störte das Getümmel wenig. Im feinen Anzug auf einem erhöhten Podest sitzend, schien er über allem zu schweben. Der Mann haute übertrieben in die Tasten seines schwarz glänzenden Flügels. Ruhe durfte hier scheinbar nicht herrschen. Er thronte zwischen Tonnen an Milchpulverdosen, Müsliverpackungen und Keksdosen wie der Esso-Tiger auf dem Dach einer Tankstelle. Aufgeblasen wie der Werbe-Tiger wirkte auch die künstlich aufgeblähte Angebotsvielfalt der vierzig verschiedenen Nudelsorten oder die gleiche Menge unterschiedlicher Kartoffelchips. Bis ich die Liste der Inhalte auf sämtlichen Verpackungen gelesen hätte, wären Stunden vergangen. Ich wusste genau, warum ich zuhause diese gigantischen Kaufhäuser mied. Hier erschien mir alles noch größer und unüberschaubarer.
Nachdem Birte und ich ein unendliches Regal langstreckenläuferisch umrundet hatten, stand ich hilflos vor einem lückenlosen Kühlregal. Unsere Einschätzung von Dimension und Maß verschwamm. Alles wirkte kilometerlang. Schaltete man seinen denkenden Kopf für eine Sekunde an, empfand man schlichtweg nur eins: absoluten Wahnsinn! Der mächtige Einfluss des dominierenden Nachbarn mit seinen Produkten war noch gewaltiger zu spüren, als bei uns in Deutschland.
»Verdammt, ich suche einen normalen Vanillejoghurt«, stieß ich ungeduldig aus und starrte dabei frustriert in die massenhaften Plastikverpackungen. »Schon wieder low fat. Ich will einen richtigen Joghurt mit Geschmack. Mit Fett.« Der nächste Becher prahlte mit der Aufschrift »No fat« und schien dabei auch noch stolz auf die ellenlange Beschreibung der künstlichen Inhalts- und Konservierungsstoffe, krebserregenden Zuckeraustauschstoffe und Geschmacksverstärker zu sein. Zumindest war er gekühlt noch bis zum Sanktnimmerleinstag haltbar.
Im Hintergrund floss das Surren der gigantischen Kühlaggregate mit dem Klavierspiel zusammen.
Am anderen Ende des kilometerlangen Regals hockte ein kleiner Verkäufer. Er steckte mit seinem Kopf im Regal und sortierte bunte Verpackungen. Ich steuerte nach erfolgloser Suche zielstrebig auf ihn zu. »Entschuldigen Sie bitte. Ich suche einen Vanillejoghurt.«
Der Verkäufer wedelte unkoordiniert mit dem erhobenen Finger ins Regal und dozierte dabei ungewöhnlich heftig mit seinen kalten Fingern über die Verpackungen.
»Nein«, antwortete ich, »ich möchte einen Joghurt mit Fett! MIT FETT!«
Unschlüssig schaute der Verkäufer sekundenlang in das Kühlregal, um den Kopf zu schütteln und sich geschlagen wieder seinen Kartons zuzudrehen.
Es gab in diesem Kühlregal scheinbar alles: klassisches Steinobst, sonnenverwöhnte Beeren, exotische Früchte in allen erdenklichen Farben und Geschmackssorten, mit Buttermilch, ohne Laktose, mit probiotischen oder schwindlig gedrehten Kulturen, aber keinen Joghurt mit läppischem drei Komma fünf Prozent Fettanteil. Und dies, wo doch in den nebenstehenden Kühlboxen die echten Kalorien- und Fettbomben in Form von Sahneeis schlummerten. Tonnenweise, ohne überhaupt den Fettgehalt auszuweisen. Was für eine Konsumentenverarschung, dachte ich.
Ich stand mit Birte in diesem kanadischen Supermarkt, dessen Regale sich wie Krater vor uns auftaten. Die Aussicht auf entspannten Einkaufsspaß war getrübt. In unserem Einkaufswagen herrschte gähnende Leere. Wir konnten uns nicht entscheiden und wollten nicht einfach irgendwelche Lebensmittel gedankenlos in uns hineinstopfen.
Reize, Entscheidungen, Angebote, alles prasselte auf uns ein. Mehr war eben doch nicht immer mehr. Gewusst hatten wir das schon lange, aber der rationale Gedanke hatte sich nicht verinnerlicht. Langsam erwachte auch das passende Gefühl dazu.
Dabei waren wir hier in Kanada wieder auf bekanntem Terrain, in einer westlichen Industrienation. Es fühlte sich nach vier Wochen Kuba jedoch anders an. Schon in den ersten Tagen hatte ich mich darüber gewundert, denn vier Wochen waren ja keine ungewöhnlich lange Zeit. Aber auf Kuba war mein Kopf von vielem befreit
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