iBurn-out - Zeit fuers Wesentliche
geschlendert. Er war in unserem Alter und für die Sicherheit am Bahnhof zuständig. In seiner sauberen Uniform strahlte er eine blasierte und selbstgefällige Rohheit aus. Sein glattes Gesicht glich dem eines Babypopos, obwohl die Bartschatten einen schnellen Haarwuchs verrieten. Seine kurz rasierten Nackenhaare ließen zwischen sich und dem Hemdkragen einen fingerbreiten Platz frei. Die Haut war ebenso dunkel wie die der Tarahumara. Aber er war keiner von ihnen und ließ sie das sofort spüren.
Er begrüßte uns mit starrer Miene. Die mittellose Frau mit ihren beiden Jungs würdigte er lediglich mit einem herablassenden Blick. Die hierarchische Rollenverteilung war klar. Das immer gleiche Muster der Erniedrigung zwischen den scheinbar höher gestellten und den Unterlegenen wurde sichtbar.
Die Einschüchterung durch die Obrigkeit wirkte, denn die Frau presste ihren größeren Sohn mit der Hand noch tiefer in die Sitzbank. Ihr kleiner Sohn guckte mucksmäuschenstill aus dem Tragetuch. Keines ihrer Kinder sollte herumspringen, Lärm machen oder irgendetwas anfassen. Die Familie verhielt sich so unnatürlich ruhig und starr, dass sie wie hinter einer unsichtbaren Wand verschwand. Sie wollten nicht auffallen und damit keinen möglichen Ärger provozieren.
Dabei schaute die Frau immer wieder auf den Fahrplan, der in großen Buchstaben an der frisch gestrichenen Wand hing. Es war offensichtlich, dass sie ihn nicht lesen konnte, weshalb sie mit unterwürfiger Stimme den Bahnangestellten fragte: »Wann fährt der Zug nach Los Mochis?« Ihre spanischen Wörter klangen selbst für unsere deutschen Ohren gebrochen. Spanisch kam ihr nur holprig über die Lippen.
Der Uniformierte ging demonstrativ zum Fahrplan und legte seinen Zeigefinder auf die Angabe der Abfahrtszeiten: »So wie es hier auf dem Plan steht.« Eine erdrückende Pause begann, in der er auf sie herab sah. Kein erlösendes Wort kam aus seinem Mund. Er kostete das Hinhalten bis zu einer Antwort aus, um der Analphabetin eine zusätzliche Lektion zu verpassen. »In zehn Minuten kommt der Zug«, antwortete er ihr schließlich gnädig. Er durchschritt die Wartehalle und stellte sich uns gegenüber. Seine festen Schritte hallten auf dem Steinboden im Raum nach. Die offensichtliche Arroganz hatte sich innerhalb weniger Schritte in heuchlerische Freundlichkeit verwandelt. »Der Zug kommt in circa zehn Minuten«, richtete er seine Information auch an uns.
Ich nickte desinteressiert, um den Sicherheitsmann im nächsten Moment wieder zu ignorieren. Ich gönnte ihm kein Wort und tauschte damit die Rolle, die der Sicherheitsmann zuvor gespielt hatte. Der Bahnangestellte hatte verstanden und verließ schweigend den Raum.
»Was für ein Kerl! Schleimt sich bei mir ein und die indigene Familie guckt er nicht mal mit dem Hintern an«, erboste ich mich. »Ich kann den Fahrplan lesen, sie nicht.« Ich musste an unsere ersten Begegnungen mit Analphabeten denken, in denen wir ihnen bei der Frage nach dem Weg eine Landkarte vorgehalten hatten. Wir hatten unüberlegt unsere deutsche Verhaltensweise an den Tag gelegt und dabei nicht bedacht, dass viele Menschen die Karte nicht lesen konnten. Sie klärten uns selbstverständlich nicht über ihre Unkenntnis auf, sondern verwiesen uns freundlich und hilfsbereit in eine völlig falsche Richtung.
Vom Bahnsteig hörten wir Unruhe aufkommen. Der Zug fuhr mit einer dunklen Dieseldampfwolke ein und die Fahrgäste machten sich zum Einsteigen bereit. Wir schulterten unsere Rucksäcke und stellten uns zwischen die anderen Mitfahrenden an den Bahnsteig. Zwischen den schwarzhaarigen und meistens kleineren Mexikanern stachen wir mit unseren blonden Haaren hervor. Wir wurden freundlich und interessiert von ihnen gemustert. Eine Stunde zuvor hatte es einen 1. Klasse Zug des CHEPE gegeben, in den die anderen ausländischen Touristen eingestiegen waren. Wir wollten aber mit diesem Zug und mit den Einheimischen reisen.
Wir suchten uns für die nächsten acht Zugstunden einen Platz und verstauten unsere Rucksäcke. Viele Gepäckstücke, Kartons und Taschen wurden in den Zug eingeladen. Niemand fuhr mal ebenso mit dem Zug durch diese verlassene Gegend Mexikos vom Pazifik bis nach Chihuahua, achtzehn Stunden vom Anfang bis zum Ende. Der Fahrpreis war für mexikanische Verhältnisse hoch, der Weg trotz schöner Aussicht lang und damit auch irgendwann beschwerlich. Dies taten überwiegend nur Touristen, zumindest die ausländischen, und dann meistens
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