iBurn-out - Zeit fuers Wesentliche
Hütte, die still auf dem Hügel lag und von der er uns wegführte. Wir waren schon mehrere hundert Meter weit gelaufen. Irgendwann blieb er stehen und zeigte in die Schlucht. »DORT.« Wir erkannten einen schmalen Trampelpfad. So schnell, wie der Mann aufgetaucht war, verschwand er wieder. Aber die beobachtenden Blicke spürten wir noch eine lange Zeit weiter in unseren Rücken. Die Anspannung fiel erst von uns ab, als wir nach einer weiteren Stunde auf die ersten richtigen Bewohner der Täler – die Tarahumara – stießen. Einige wenige Hütten standen verstreut auf einer Lichtung.
Plötzlich wussten wir, warum die Drogenhütte so auffallend komisch gewirkt hatte. Sie war leblos gewesen: Hier im Tal wuchsen neben den Hütten einzelne vertrocknete Mais- und Bohnenpflanzen zwischen Gestein in staubiger Erde. Die Tarahumara lebten von dem, was sie der Natur abringen konnten, ob als Bauern oder Jäger. Kinder hüteten ein paar Ziegen, einzelne Rinder und einige Schafe. Magere Hühner scharrten auf der Suche nach Fressbarem und gackerten leise vor sich hin. Frisch gewaschene, bunte Wäsche war auf Leinen vor jeder Hütte aufgehängt oder lag auf den warmen Steinen zum Trocknen. Große Zinkwannen glänzten matt in der Sonne. Am Rand der Lichtung unter den Felsvorsprüngen zeichnete sich der schwarze Qualm ihrer Feuerstellen im Gestein ab. Es gab auch Tarahumara, die in den Höhlen der Felswände wohnten.
Bei unserer Ankunft liefen die Kinder auseinander und versteckten sich vor uns. Auch als ein Vater uns zurückhaltend zu sich bat, um uns einige Orangen zu verkaufen, blieben seine Kinder hinter der Hausmauer. Sie beobachten uns aus sicherer Entfernung bis wir ihre Nähe wieder verlassen hatten, um uns auf den Rückweg raus aus den Schluchten zu machen.
Birte und ich waren ein paar Tage in dieser Region gewesen und wollten zurückreisen. Für die Rückfahrt mit dem Zug zu unserem parkenden Camper warteten Birte und ich in der neu renovierten Bahnhofshalle in dem Ort »Creel«.
Wir guckten beide still auf den Boden der Wartehalle, in der wir alleine saßen. Die Eindrücke und Erlebnisse der letzten Tage waren sehr bewegend gewesen und schwirrten noch unverarbeitet in unseren Köpfen herum, als die Tür der leeren Bahnhofshalle zaghaft aufgestoßen wurde. Ein arm aussehender, kleiner Junge im Alter von sechs Jahren kam barfüßig über den kalten Steinboden herein. Sein dunkelhäutiges Gesicht war staubverkrustet. Rotz, Tränen und Essen hatten Spuren auf seiner Haut hinterlassen. Unter seiner Nase führten sie pechschwarz wie bei einem Autobahnkreuz zusammen. Er sah sich ängstlich um, wobei sein prüfender Blick an uns vorbei schweifte. Auch er gehörte, ebenso wie seine Mutter, die einige Schritt hinter ihm folgte, zu den Tarahumara. Auf ihrem gebeugten Rücken trug sie in einem Tragetuch einen zweiten Jungen. Der Kopf dieses circa zweijährigen Kindes guckte teilnahmslos aus dem Tuch heraus.
Die Kleidung war bei allen Familienmitgliedern löchrig und abgetragen. In jeder Masche hatte sich feiner Staub verfangen und raubte den Textilien ihre Farbe. Die Mutter trug keine traditionellen Ledersandalen aus geschnürten Riemen. Ihre Füße steckten stattdessen in zu kleinen Stoffschuhen, deren Schuhspitzen abgeschnitten waren. Ihre Zehen lugten aus den vorderen Löchern heraus. Nur ihr voluminöser Faltenrock erinnerte an die traditionelle Kleidung. Er bildete einen Kontrast gegen ein altes mausgraues Baumwoll-Sweatshirt und eine lila-grüne Trainingsjacke aus Polyester, die sich an ihrem Körper vereinten. Im Vergleich zu den ansonsten wunderschönen, schwarz glänzenden Haaren der indigenen Frauen sahen ihre stumpf aus.
Der größere Junge setzte sich still auf eine Bank und seine Mutter daneben. Die Füße des Jungens baumelten haltlos in der Luft.
Wäre er ein kleiner Nachbarsjunge in Hamburg gewesen, dann hätte er in diesem Jahr seine Einschulung mit einer Tüte voller Süßigkeiten gefeiert, machte ich mir bewusst. Mit der Schulbildung hätte sein Selbstbewusstsein und seine Chance fürs Leben wie eine kleine Pflanze wachsen können. Sie wären mit ihm größer und kräftiger geworden. Er hätte Stolz für seine einzigartige und eigenständige Kultur entwickeln können und sich eventuell mit gestärktem Selbstvertrauen vor der Art Mensch zu schützen gewusst, der nun ebenfalls die Wartehalle hinter ihnen betrat.
Ein arroganter bewaffneter Uniformierter war gewichtig der Tarahumara-Familie hinterher
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