iBurn-out - Zeit fuers Wesentliche
im 1. Klasse Abteil.
Im Großraumabteil waren wenige Plätze unbesetzt. Die Tarahumara-Frau hatte mit ihren beiden Söhnen eine Reihe vor uns auf der gegenüberliegenden Seite zwei Sitze belegt. Wir fragten uns, wie sie sich überhaupt diese Zugfahrt hatte leisten können.
Ein älterer Zugschaffner schritt nach der Abfahrt durch die Reihen der durchgewetzten Polstersitze und kontrollierte die Fahrscheine. Seine dunkle Uniform war sauber, aber an den beanspruchten Stellen fadenscheinig und abgetragen. Er sah uns unter seiner dunklen Schirmmütze nett an und knipste die Fahrscheine ab. Auch die der schweigsamen Familie vor uns entwertete er lächelnd.
Ich sah, dass die Familie kaum ein Wort miteinander sprach. Die wenigen gesprochenen Sätze hauchte die Mutter flüsternd in die Ohren der Kinder, so als würde sie um keinen Preis auffallen wollen. Sie selbst saß auf der vorderen Kante des Sitzes. Unbequem lehnte sie sich nach vorne über, denn ihr kleiner Sohn lag noch immer im Tragetuch auf ihrem Rücken. Er wog sicherlich genauso viel wie einer unserer großen Rucksäcke. Seine dunklen Augen schauten müde, fast lethargisch unter seinem schwarzen, struppig geschnittenen Pony hervor. Aus den beiden unteren Öffnungen des Tuches ragten seine nackten Füße heraus.
Die Beine des kleinen Jungens wie auch die seines Bruders sehnen sich bestimmt nach Bewegung, aber wagen noch nicht einmal zu zappeln, dachte ich bedrückt.
Der Zug, mit drei kräftigen Lokomotiven vorne weg, ratterte laut auf seinen Schienen. Aus dem Fenster sahen wir schroffe Felswände dicht an unserer Scheibe vorbeiziehen. Tunnel und Brücken wechselten sich ab, wie auch Gefälle und steile Anstiege. Ein bewaffneter Sicherheitsmann hielt uns im Zug realistisch vor Augen, dass wir uns noch immer im Gebiet von Drogenschmugglern und -banden aufhielten. Er patrouillierte mit voller Konzentration und Aufmerksamkeit die Abteile. Dabei trug er, ganz in schwarz gekleidet, eine große Waffe mit einem breiten Riemen um seinen muskulösen Nacken. Sie sah für mich aus, als könnte sie ohrenbetäubend und vollautomatisch alles in winzige Stücke zerfetzen. Er verbarg seine Hände in schwarzen Lederhandschuhen. Die ausgebeulten Taschen seiner Weste ließen noch mehr Munition und kleinere Waffen vermuten. Wir fühlten uns durch seine freundliche Autorität gut beschützt und hofften, dass andere durch ihn abgeschreckt wurden.
Stunde um Stunde verging. Das monotone Rappeln der Wagons wurde nur selten durch Haltestellen unterbrochen. Wir und die anderen Fahrgäste nickten trotz schöner Aussicht immer wieder kurzzeitig ein.
Plötzlich riss mich ein lautes Kinderschreien in direkter Nähe aus meinem dämmrigen Schlaf. Ich war wohl kurz eingenickt. Ich öffnete benommen meine Augen und schaute zu der Tarahumara-Familie herüber. Die beiden Jungs weinten so laut, dass sich ihre Stimmen überschlugen. Rotz lief ihnen aus den Nasen und dicke Tränen kullerten aus ihren weit aufgerissenen Augen. Die Tränen malten senkrecht verlaufende Streifen in ihre staubig verdreckten Gesichter. Das Geschrei war herzzerreißend. Ihre Mutter wirkte panisch. Um die Ruhe wiederherzustellen, redete sie leise auf sie ein. Aber die beiden ließen sich nicht beruhigen. Jeder schrie verzweifelt für sich alleine weiter.
Neugierige Fahrgäste reckten ihre Köpfe, um die Quelle des Lärms zu orten. Nach einigen Minuten war das Abteil von Stimmengewirr erfüllt, alle redeten durcheinander.
Birte und ich schauten uns die Szene an, aber verstanden das Problem nicht. Wir begriffen allerdings in dem spanischen Sprachwirrwarr, dass es um mehr als nur zwei schreiende Kinder ging.
Der freundliche Schaffner kam alarmiert in das Abteil und beugte sich zu der Familie herunter. Die Wortfetzen »humbre« und »ayuda«, Hunger und Hilfe, drangen an unsere Ohren. Er wechselte wenige Wörter mit der Frau und verschwand wieder. Die Unruhe und das Gerede der anderen Fahrgäste erstarben, als der Schaffner nach wenigen Minuten mit warmen Tortillafladen und zwei Wasserflaschen zurückkam. Er reichte ihr das Essen mit großer Anteilnahme. Die Hilfe wurde nicht von oben herab gegeben, sondern auf gleicher Augenhöhe und aus der Position eines mitfühlenden Menschen zu einer armen Mutter.
Mit dem Duft der gefüllten Tortillas hörten die Kinder auf zu schreien. Die letzten dicken Tränen rollten aus den verweinten Augen. Die Mutter riss sich ein kleines Stück ab, um den Rest an die beiden Jungs
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