iBurn-out - Zeit fuers Wesentliche
betretende Schneebrücke die Stabilität durch die Sonne längst eingebüßt hatte. Unsere imaginäre Nabelschnur zu den Bergführern kam uns immer mehr wie die Verlängerung eines Galgenstricks vor.
Mit jeder unüberlegten Bewegung der Bergführer in Richtung Gletscherspalten verschwand unser Vertrauen. Wir hörten auf, nur kopflos zu folgen, sondern prüften jeden Schritt selbst. Wir wussten, dass eine Bergrettung auf dieser Höhe unwahrscheinlich war. Da half auch keine deutsche Bergrettungsversicherung, die wir standardmäßig abgeschlossen hatten. Es war ein Zettel ohne Bedeutung. Die Anden waren nun mal nicht die Alpen und das hatten wir auch vorher gewusst.
Nach sechs Stunden des Abstiegs hatten wir es endlich geschafft. Wir stolperten aus den lebensgefährlichen Lawinenfeldern des Cotopaxi heraus und fanden uns in einer der Endmoränen des Gletschers wieder, die scheinbar noch nie eine Menschenseele gesehen hatten. Auch unsere Bergführer erkannten keine Anhaltspunkte in der Landschaft. Außerhalb der Lawinenfelder machten wir uns keine Sorgen mehr. Wir wussten, dass wir irgendwie aus dieser Geschichte herauskommen würden. Zeit hatten wir ja genug, um irgendwann auf eine Menschenseele zu stoßen. Wenn nicht heute, dann vielleicht am nächsten Tag.
Nach den lebensgefährlichen Erfahrungen auf dem Gletscher empfanden wir die Geröllhänge nur noch als potenzielle Unfallquellen. Kopfgroße Lavasteine lösten sich durch unbedeutende Berührungen und schossen mit Lärm in die Tiefe. Sie rissen wie Dominosteine anderes Geröll mit sich und verursachten dadurch kleine Kettenreaktionen. Durch ihre raue Beschaffenheit hatten sie messerscharfe Kanten, die die Haut beim Sturz aufschnitten. Bei dieser Bodenbeschaffung musste jeder Schritt mit Konzentration geschehen. Die war aber in den letzten Stunden irgendwo zwischen Gipfel und Moräne auf der Strecke geblieben. Es folgten steile Hänge und wieder tiefe Schluchten, eigentlich wunderschöne Formationen, die wir jedoch schlichtweg ignorierten. Spalten und Abgründe taten sich vor uns auf, die nicht zu überwinden waren. Dann entschieden wir uns, den Hang zurück hochzusteigen und eine neue Richtung auszuprobieren. Der Schweizer, Ingo und ich waren mittlerweile ohne Bergführer. Denn die hatten sich allein auf den Weg gemacht, einen Weg zurück zu finden und versuchten über das Mobiltelefon Hilfe zu organisieren.
Am späten Nachmittag fanden uns Bekannte des Bergführers. Sie brachten zwei Pferde, die Ingo und mich nach wenigen Metern an einem Steilhang aus den Sätteln warfen. Ingo stieg wieder auf, um die letzten zehn Kilometer erschöpft auf dem Rücken des Pferdes zurückzulegen. Ich verzichtete darauf und ging den Rest auch noch zu Fuß. Auf dem Pferderücken sitzend verschwand Ingo alleine als kleiner Punkt am Horizont. Ich wunderte mich über die falsch eingeschlagene Richtung und schrie noch hinterher, aber er schien mich nicht mehr zuhören.
Kurz vor Sonnenuntergang erreichte unsere Gruppe die einsame Bergsteigerunterkunft. Niemand war dort, außer Ingos Pferd stand grasend vor der Unterkunft. Die letzte Anspannung fiel nun von mir ab.
Ingo erzählte uns später, dass sein Gaul den Weg zu einer Herde Wildpferde auf der Hochebene eingeschlagen hatte anstatt zurück zum Ausgangspunkt zu trotten. Er hatte den Weg selbst nicht gekannt und sich auf das Pferd verlassen. Und ein Wildesel hatte unterwegs auch noch versuchte, Ingos Pferd in die fleischige Flanke zu beißen. Trotz gestrecktem Galopp konnte er sich oben halten, erzählte er stolz. Dass Ingos erster Reitversuch so enden würde, überraschte an diesem Tag keinen mehr.
Ich blinzelte mich vom Gipfel des Cotopaxi zurück in unseren Camper. Ingo und ich hatten uns, nachdem die deutschen Rentner zum Mittagessen in die Hütte gegangen waren, wieder nach drinnen verzogen. Unser Kokatee war inzwischen kalt geworden.
»Es wundert mich immer noch, dass manche so unverhohlen ihren Neid zeigen müssen«, sagte ich zu Ingo beim Gedanken an die deutschen Rentner, die Dauerwellenfrau und ihrem Mann.
»Die Sprüche und ihr Habitus waren wirklich filmreif. Mittlerweile kommen mir meine Erzählungen, nach der Strategie »Erzähl den Neidern, was sie garantiert nicht hören wollen«, auch schon routinierter über die Lippen. Hast du ihr Gesicht gesehen?«
»Du musstest ihnen natürlich auch von deiner Skifahrt vom Cotopaxi erzählt«, zog ich Ingo auf.
»Aber selbstverständlich«, grinste er mich an.
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