Icarus
unordentliche Kleiderhaufen und ein Pfostenbett aus Eisen erkennen.
»Wissen Sie, als ich hierherkam, dachte ich, ich würde als Model arbeiten. Das erzählen alle, daß schöne Mädchen aus Russland hierherkommen und Models werden.«
»Was ist passiert?«
»Vielleicht bin ich nicht schön genug.«
»Ich glaube nicht, daß das der Grund ist.«
Sie lächelte bitter und begann die Kerzen anzuzünden, die überall im Zimmer herumstanden. Als sie eine Hand ausstreckte, um zwei Kerzen auf dem Fußboden in einer Zimmerecke zu erreichen, hob sie eine kleine Injektionsspritze auf und hielt sie hoch, um sie zu inspizieren. »Vielleicht habe ich etwas gefunden, das mir besser gefällt«, sagte sie. Als sie alle Kerzen angezündet hatte, schien sie von dieser Tätigkeit total erschöpft zu sein und ließ sich auf die Sofaruine fallen. »Nehmen Sie Platz.«
»Wo?« fragte er.
Ohne zu antworten – er war sich nicht sicher, ob sie überhaupt seine Frage gehört hatte –, sprang sie von der Couch auf und kehrte in die Küche zurück. Er hörte, wie der Kühlschrank geöffnet wurde, und das Klappern und Klirren verschiedener Gegenstände in ihren Schränken, dann sah er, wie sie, während sie ihm den Rücken zuwandte, Wein in zwei Pappbecher füllte. Wieder zum Sofa zurückgekehrt, reichte sie ihm einen Becher, der fast randvoll war. Sie ließ sich abermals auf die Couch fallen und streckte sich aus, so daß ihr Kopf auf der einen Armlehne ruhte und ihre schwarzen Stiefel auf der anderen.
»O Gott«, seufzte sie. »Würden Sie mir die Stiefel ausziehen?«
Jack zögerte, dann stellte er seinen Pappbecher auf den abgewetzten Holzfußboden. Er ging zur Couch, und sie hob vorsichtig ein Bein hoch. Er ergriff ihren linken Fuß und legte die Finger um den schwarzen Absatz und zog. Er brauchte drei Versuche, dann rutschte der Fuß aus dem Stiefel. Ein genußvoller Ausdruck erschien in ihrem Gesicht, während sie mit den Zehen wackelte. Wortlos hob sie das andere Bein an und streckte ihm auch diesen Fuß entgegen. Er packte den Stiefel und zog. Als er den Stiefel in der Hand hatte, stellte er ihn vor ihr auf den Fußboden. Den Kopf zurück gelegt, ihre Füße streckend, schloß sie die Augen, und Jack war sich nicht sicher, ob sie ihm nicht unter den Händen eingeschlafen war. Aber ehe er sich vergewissern konnte, riß sie die Augen auf und sagte: »Wissen Sie, was Kids größtes Problem war? Er versuchte ständig, mich zu bessern. Ich meine, Scheiße, bessern wovon?«
Sie trank einen großen Schluck von dem Wein. Ein kleiner Tropfen löste sich von ihren Lippen und perlte an ihrem Kinn hinab. Sie fing ihn mit einem Finger auf, steckte ihn mit einem Ausdruck totaler Zufriedenheit in den Mund und lutschte daran. Jack trank ebenfalls einen großen Schluck aus seinem Becher. Es war billiger Fusel, zu kalt und nach Essig schmeckend, aber es war ihm egal. Er trank abermals.
»Jemand war in dieser Nacht kurz vor seinem Tod mit ihm zusammen. Wußten Sie das?«
»Wer?«
»Das weiß ich nicht. Ich hatte gehofft, Sie könnten es mir sagen. Es war eine Frau.«
»Oh.« Sie wirkte wieder leicht weggetreten, und er fragte sich, ob sie irgend etwas genommen hatte, als sie den Wein holte. »Kid.« Sie schien ihren eigenen Gedanken nachzuhängen. »Außerdem«, sagte sie, »wer will schon gebessert werden?«
»Waren Sie bei ihm?«
»Ich war oft bei ihm«, sagte sie verträumt.
»In dieser Nacht. In der Nacht, als er aus dem Fenster stürzte, waren Sie da auch bei ihm?«
»Woher zum Teufel soll ich das wissen?« erwiderte sie. »Ich weiß ja noch nicht einmal, wo ich jetzt bin. Wo sind wir? Ich meine, Gott im Himmel!«
Sie griff, ohne hinzuschauen, unter die Couch, tastete dort herum und holte eine Packung Zigaretten hervor. Sie zündete sich an dem Stummel, den sie noch rauchte, eine neue an.
»Kid war auf einem Trip, als er abstürzte«, sagte Jack.
»Tatsächlich?«
»Überrascht Sie das nicht?«
»Wollen Sie die Wahrheit wissen? Mich überrascht gar nichts mehr. Dieses spezielle, wie heißt es noch mal, dieses Ding in meinem Gehirn, es ist so etwas wie ein elektrischer Apparat, nun, es ist weg. Die Sicherung ist durchgebrannt oder was auch immer. Ich kenne noch nicht mal den genauen medizinischen Ausdruck.«
Jack trank erneut von seinem Wein. Zu seiner Überraschung schmeckte er auf einmal besser.
»Verdammt, ich vermisse ihn, wissen Sie das? Ich meine, er hat meinen Hals gerettet. Habe ich Ihnen das schon erzählt? Ja, ich
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