Ice
sein Blick schweift immer wieder in meine Richtung. Unter seinen Armen haben sich Schweißflecken gebildet, seine Nasenflügel blähen sich. Er atmet heftig, das erkenne ich aus den wenigen Metern Entfernung. Er hat Angst, und seinem panischen Blick nach zu urteilen, gilt seine Angst nicht dem baldigen Tod, sondern mir.
Langsam erwachen einige Bürger aus ihrer Trance. Gemurmel kommt auf, dann Rufe. »Das könnt ihr nicht machen! Er hat nichts verbrochen!«
Die beiden Krieger, die Ice festgekettet haben, stellen sich zu beiden Seiten ganz an den Rand der Plattform und warten gehorsam. Sie zeigen keine Regung, keine Unsicherheit, sie stehen voll und ganz hinter dem Regime. Das darf nicht sein! Sehen sie nicht, was hier passiert? Sie könnten die nächsten sein!
»Bürger von White City!«, dringt plötzlich Vaters Stimme an unsere Ohren.
Als ich ihn höre, verkrampft sich mein Magen und ich zucke so stark zusammen, dass ich befürchte, entdeckt worden zu sein, aber alle blicken auf zum nächsten Screener, der genau über Ice’ Kopf angebracht ist. Hektisch scanne ich mit den Augen den Platz. Kein einziger Senator ist anwesend. Die Feiglinge sind nicht persönlich gekommen!
»Endlich ist es uns gelungen, einen dieser Verräter zu verhaften, der sich auf die Seite der Rebellen geschlagen hat. Anstatt meine Tochter aus den Outlands zu holen, hat er sich mit diesem Pack verbündet und Medikamente aus unserem Krankenhaus gestohlen. Dafür wird er seine gerechte Strafe erhalten!«
Er hat das nur getan, um mich zu retten , will ich rufen – und mir wird erneut klar, warum sie Ice den Mund verbunden haben.
Ein leises Summen ertönt, und ich schnappe nach Luft. Der Lauf der automatischen Schussanlage richtet sich auf Ice’ Brust.
Oh Gott, wo bleiben Jax und die anderen?
»Dieser Mann wird sterben, weil er unsere Gesetze gebrochen hat!« Vaters Miene ist wie immer ausdruckslos. Er hat keinerlei Gefühle für Ice. »Jedem, der sich uns fortan in den Weg stellt, wird dasselbe Schicksal blühen.«
»Ne…« Nein! Ich will schreien, doch Andrew hält mir den Mund zu und drückt mein Gesicht an seine Brust.
»Schau nicht hin, Nica, bitte.«
Ich klammere mich an sein Shirt, aber ich will nicht wegschauen, ich will Ice ansehen!
»Waren wir nicht gut zu euch?«, hallt Vaters Stimme über den Platz. Sein bleiches Gesicht ist erhitzt und voll roter Flecken. »Wir haben mit Spielen für euer Vergnügen gesorgt, wir haben diese Stadt frei von Mutanten gehalten. Wir haben euch Schutz vor der Verstrahlung geboten und saubere Luft bereitgestellt. Wir forschen daran, Krankheiten auszurotten, und tun alles, damit es euch gutgeht! Ich glaube, wir haben euch zu sehr verwöhnt. Aber damit ist nun Schluss, wenn es uns auf diese Weise gedankt wird!«
Während sich Vater in Rage redet, flackern die Bilder auf den Screenern vor meinen Augen. Ich versuche, Ice nicht aus dem Blick zu lassen, ich will jedes Detail von ihm aufnehmen, bevor er nicht mehr da ist. Wenn ich doch noch ein Mal mit ihm sprechen könnte!
Ich verliere mich im herrlichen Grau seiner Iriden, bewundere seine muskulöse Gestalt und wünsche mir, er würde mit seiner Kraft die Ketten sprengen. Er ist doch ein Krieger, er ist stark und mutig. Warum hat er sich nicht gewehrt? Wieso nimmt er seinen Tod hin? Vielleicht hätte er einen der Wächter überwältigen und eine Waffe an sich nehmen können? Weshalb hat er nicht gekämpft? Haben sie ihm etwas gespritzt, damit er sich nicht wehrt? Damit ihm alles gleichgültig ist?
Er atmet schneller, sein Brustkorb hebt und senkt sich rasch. Schweiß glitzert auf seiner Stirn.
Nein, er ist bei vollem Bewusstsein, ich sehe förmlich, wie es in seinem Kopf arbeitet, immer, wenn sich unsere Blicke ineinander verhaken.
Ich erkenne Ice kaum noch, weil mir die Tränen in Strömen aus den Augen laufen. Andrew hält mich fest im Arm, ich spüre sein Herz hart gegen meinen Rücken schlagen.
Wo sind denn Jax und die anderen? Kann denn keiner die Funkübertragung der automatischen Schießanlage deaktivieren?
Ich verfluche Andrew und seinen Tablet-PC, den er zuletzt Jax gegeben hat, damit er und seine Leute durch einen anderen Aufgang in die Stadt kommen konnten. Wir haben nichts, aber auch gar nichts hier, um das Unglück abzuwenden.
Als Vater sagt: »Stirb, du Verräter!«, drückt mir Andrew erneut die Hand auf den Mund. Wie in Zeitlupe bewegt sich der Lauf der automatischen Waffe in die endgültige Position, ich erkenne einen
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