Ice - Hüter des Nordens - Durst, S: Ice - Hüter des Nordens
Sie wirbelte durch die Luft wie ein Feuerrad.
Ein Meer aus Wolken wogte unter ihr, und Cassie musste die Zähne zusammenbeißen, um sich nicht zu übergeben. Schneller und schneller flog sie dahin, tief hinein in das schneebedeckte Gebirge, in Schlangenlinien zwischen vereisten Gipfeln hindurch. Die Windbrüder wehten jetzt fast aus der gleichen Richtung und bliesen sie mit vereinten Kräften direkt auf einen gigantischen Gletscher zu. »Passt auf!«, schrie sie, als sie aus der Wolkendecke herausschoss und den Hang hinaufsegelte.
»Da wären wir«, flüsterte der Südwind. Die beiden flauten weiter ab, und Cassie erblickte vor sich einen riesigen Berghang. Mitten in der eisbedeckten Felswand gähnte eine Höhle wie eine klaffende Wunde.
Ost und Süd trugen Cassie zu Nords Wohnsitz hinüber. Schnee stob heraus, als sie darauf zuflog. Eine Woge eiskalter Luft schlug ihr entgegen und katapultierte sie wieder zurück in die Richtung, aus der sie gekommen war. Dann erfasste sie eine wütende Bö, und der Nordwind brüllte donnernd: »Zur Hölle mit euch! Was wollt ihr hier? «
Der Südwind strich um Cassie herum und flüsterte: »Offensichtlich hat er heute einen schlechten Tag. Möchtest du jetzt vielleicht weg hier?« Sie spürte, wie ihr Onkel bebte. Kalter Schweiß trat auf ihre Haut.
Alles in ihr wollte »Ja« sagen, wollte so schnell und so weit wie nur irgend möglich weg von diesem neuen Monster. »Nein«, sagte sie laut. »Deswegen bin ich ja hier. Bringt mich näher ran.« Die Winde setzten sie vor der Höhle ab, und Cassie rief hinein: »Nordwind, ich muss mit dir reden! Ich bin Gails … «
»Erwähne niemals wieder diesen Namen!« Heulend fuhr der Nordwind aus seiner Höhle und fegte mit Orkanstärke um die Bergspitze. Dieses Ungeheuer nannte Gail Vater? Angsterfüllt sah Cassie zu, wie Felsbrocken in Schauern von Eis und Hagel den Gletscher hinunterpolterten. Einer ihrer Onkel begann tatsächlich zu wimmern, als die Trümmerteile gegen einen Berghang krachten und eine Pilzwolke aus Schlamm und Eis emporschleuderten. Der Einschlag löste weitere Steinfälle aus.
Aus der Tiefe ertönte das wütende Brüllen eines Bergdrachen, als die Lawine über ihn hinwegraste. Bei dem Geräusch hielt der Nordwind für einen kurzen Moment inne. Das war ihre Chance. Cassie dachte daran, wie Gail aus der Station gestürmt war, um ihr Kind und ihren Mann zu schützen. Wenn ihre Mutter es gewagt hatte, sich ihm entgegenzustellen, um ihrer Familie willen, dann konnte sie es auch. Cassie formte mit den Händen einen Trichter vor dem Mund. »Du musst mich in das Land östlich der Sonne und westlich des Mondes bringen!«
»mach, dass du wegkommst!«
»Jetzt hat sie den Salat«, hörte sie einen ihrer Onkel flüstern.
Hagel prasselte auf ihre Haut. Südwind und Ostwind verkrochen sich ächzend in irgendwelchen Felsnischen. Cassie hob schützend die Arme vors Gesicht. »Hör auf damit!«
»Lass mich in Ruhe!«
»Den Teufel werde ich!«, schrie sie zurück. »Du musst mir helfen!«
»stör mich nicht in meinem Elend!« Donnernd fuhr der Nordwind in seine Höhle zurück. Eine Gletscherspalte brach auf, und die riesige Eisscholle rutschte den Hang hinunter.
»Bringt mich näher ran«, bat Cassie ihre beiden Onkel.
»Ich glaube nicht, dass das eine gute Idee ist«, widersprach der Ostwind.
Wolken sammelten sich um sie, wurden dichter und dichter, färbten sich dunkelgrau. »Oh nein, Kindchen, nein«, flehte der Südwind, während allmählich der ganze Berg hinter den Wolken verschwand. »Bitte, verlang das nicht von uns!«
»Gail zuliebe«, bat Cassie inständig.
Schließlich gaben die Winde nach und trugen sie auf zitterndem Atem zum Eingang der Höhle empor. Je weiter sie sich ihm näherte, desto stärker wurde der Wind, der ihr entgegenblies. Ihr Bauch zog sich zusammen, als ob das Baby protestieren wollte. Cassie schrie: »Ich bin deine Enkelin!«
Ganz plötzlich flaute der Nordwind ab, und Cassie stürzte kopfüber in die Höhle hinein. Ihre Füße versuchten, irgendwo Halt zu finden, und sie stieß sich die Zehen an Felsbrocken blutig. Schließlich landete sie auf dem Boden, zitternd wie ein aus dem Nest gefallenes Vögelchen. Vorsichtig richtete sie sich auf und blickte sich um. In einer Ecke der Höhle wirbelte eine dunkle Wolke umher. Cassies Atem ging schneller. Das war er. Ihr Großvater. Das Wesen, das ihre Mutter entführt hatte, das für ihre Gefangenschaft verantwortlich war und damit, wenn auch
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