Ice - Hüter des Nordens - Durst, S: Ice - Hüter des Nordens
Cassie. »Ihr müsst mir helfen!«
»Wir können sie nicht behalten«, echote der Ostwind. »Es war von Anfang an nicht recht.« Die Luft verdunkelte sich. Regentropfen prasselten auf Cassies Arme.
»Ich will sie aber haben!«, heulte jammernd der Südwind.
Cassie hörte ein Knistern und sah, wie ein weißer Lichtfunke von Wolke zu Wolke sprang. Wenn die beiden nicht aufhörten, sich zu streiten, würde sie in den elektrischen Entladungen sterben. »Bitte!«, schrie Cassie. »Onkel!«
»Siehst du«, beharrte der Südwind. »Da hörst du’s. Sie sagt selbst, dass sie zur Familie gehört!«
»Ja, ja. Ich gehöre zur Familie! Ich bin Gails Tochter!«, rief Cassie in den aufkommenden Gewittersturm hinein. »Hört auf damit! Stürmt nicht so! Bitte! Hört auf!«
Innerhalb einer Sekunde löste sich das dunkle Grau auf, und die starken Böen flauten zur leichten Brise ab. »Haben wir dir etwa wehgetan?«, fragte der Südwind. »Das wollten wir nicht. Deine Mutter war unsere Lieblingsnichte. Wir haben sie angebetet.«
»Sie war ein totaler Fehlgriff«, widersprach der Ostwind.
Cassie ging hoch wie eine Bombe. »Wie bitte?«
Der Südwind meinte besänftigend: »Es ist ein alter Streit. Mein Bruder war dagegen, dass Nord deine Mutter adoptiert.«
Der Ostwind begann zu grollen wie ein Gewittersturm. »Er hat sie entführt.«
»Adoptiert«, widersprach der Südwind.
»Entführt.«
Der Südwind versuchte, vernünftig zu argumentieren. »Wenn Abigail uns nicht lieben würde, hätte sie uns nicht ihre Tochter geschickt, damit sie bei uns lebt«, sagte er.
Cassie, die immer noch hilflos in der Luft umhertrudelte, versuchte herauszufinden, woher genau die Stimmen kamen. »Ich bin nicht hier, um bei euch zu leben! Ich bin hier, um euch zu bitten, mich in das Land östlich der Sonne und westlich des Mondes zu bringen!«
Die Luft ringsum erbebte. »Oh nein, Kindchen! Dorthin kannst du nicht gehen«, sagte der Südwind. »Es ist kein netter Ort. Überhaupt kein netter Ort.«
»Nichts für lebende Geschöpfe«, stimmte der Ostwind zu.
»Außerdem«, fuhr der Südwind fort, »ist es zu weit weg. Viel zu weit weg für uns.« Er klang zufrieden. Wolkenfetzen glitten an Cassie vorbei wie Schwärme silberner Fische in einem Fluss.
»Aber ihr seid die Winde«, beharrte Cassie. »Wind kommt überallhin.«
»Es ist noch hinter dem Ende der Welt«, sagte der Ostwind, und während er sprach, verdüsterte sich erneut der Himmel. Dunkelgraue Flecken erschienen auf den weißen Wolken und breiteten sich immer mehr aus.
Cassie spürte, wie ein dicker Regentropfen auf ihre Wange klatschte. »Die Welt ist rund. Sie hat kein Ende«, sagte sie. »Außerdem«, fuhr sie fort, »ist Großvater schon dort gewesen. Könnt ihr mich zu ihm bringen?«
»Ach, Kindchen. Dem willst du nicht wirklich begegnen«, wiegelte der Südwind ab.
»Er ist sehr aufbrausend«, erklärte der Ostwind. »Einmal war er so wütend, dass er uns in tausend Stücke zerfetzt und in alle Himmelsrichtungen zerstreut hat.« Die Luft zitterte. »Wir haben Wochen gebraucht, um uns wieder zusammenzufinden.«
Er hatte seine eigenen Brüder auseinandergefetzt? Cassie lief ein Schauer über den Rücken. Das hier waren also die Geschöpfe, bei denen ihre Mutter aufgewachsen war, die Gail ihre Familie nannte. »Bringt mich einfach zu ihm!«
»Das werden wir ganz sicher nicht tun«, sagte der Südwind entschlossen. »Er würde dich in Stücke reißen.«
Cassie öffnete den Mund, um zu widersprechen, da krampfte sich plötzlich ihr Bauch zusammen. Sie hielt ihn fest. Ihr Baby! Nicht jetzt! Sie war Bär doch schon so nahe! »Bringt mich zu ihm, Gail zuliebe!«
»Aber … «
Ihr Leib entspannte sich wieder, und sie atmete tief durch. »Bitte! Wenn euch Gail auch nur das Geringste bedeutet hat, bringt ihr mich sofort zum Nordwind!«
Keine Antwort. Stattdessen fauchten die Winde um sie herum. Ihr Rock flatterte und wickelte sich um ihre Beine. Die Arme schützend um ihren Bauch geschlungen, wurde Cassie durch die Luft davongetragen.
»Besser, du schließt die Augen«, riet ihr der Südwind. »Manchen gerät auf so einem Trip ihr Weltbild komplett durcheinander.«
»Jetzt macht euch mal keine Sorgen um mein Weltbild«, erwiderte Cassie. »Ich habe einen sprechenden Bären geheiratet.«
Und so nahmen Ostwind und Südwind Cassie in ihre Mitte und trugen sie über die Wälder davon. Während sie zwischen den beiden dahinflog, spürte sie, wie sich ihr Leib erneut zusammenzog.
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