Ice - Hüter des Nordens - Durst, S: Ice - Hüter des Nordens
gegen die Drachenklaue. Ihr Herz raste.
Plötzlich wurde ihr überdeutlich bewusst, wie dünn ihre Haut war, wie zerbrechlich ihre Knochen.
Was ist bloß los mit mir?, fragte sie sich. Vor ein paar Monaten erst war sie ins Nordpolarmeer getaucht. Was sollte denn hieran so anders sein? Sie blickte noch einmal über die Kante und schluckte. Der Schwanz des Drachen ringelte sich in der Luft wie eine riesige Perlenkette aus Granitblöcken. Es war anders. Sie schlang die Arme fester um ihren Leib. Alles war jetzt anders.
Wie weit würde sie Bär zuliebe gehen? Wo war die Grenze? Gab es überhaupt eine Grenze? Sie setzte jetzt nicht mehr nur ihr eigenes Leben aufs Spiel.
Das Baby trat gegen ihre Hände, und sie spürte, wie Wellen durch ihre Bauchwand liefen. »Wie steht’s, bist du bereit?«, fragte sie ihren Bauch. Wieder ein Tritt. Es war, als würde das Baby sie vorwärtsdrängen. Cassie lächelte. Wie weit würde sie wirklich gehen, um ihrem Kind seinen Vater zurückzugeben? Bis in das Land östlich der Sonne und westlich des Mondes natürlich. »Also dann, Kleines«, sagte sie. »Lass uns deinen Daddy finden.«
Cassie stellte die Zehenspitzen an den Rand des Abgrunds und ließ ihren Blick über den Nördlichen Nadelwald streifen. Ihr Haar flatterte im Wind. Sie strich die Strähnen zurück. Das Kind, das sie in sich trug, würde nicht so aufwachsen wie sie selbst und einen Elternteil vermissen, den es nie gekannt hatte. »Würdest du bitte die Wind-Munaqsri rufen?«, bat sie den Drachen.
»Du willst das wirklich tun?« Zum ersten Mal klang er nicht herablassend. Er klang neugierig. »Welchen Grund kann es denn für dich geben, deinen weichen, verletzlichen Körper von mir herunterzustürzen?«
Cassie hätte ihm hundert Gründe aufzählen können: weil Bär eine Skulptur von ihr in seinem künstlichen Eisgarten geschaffen hatte; weil es ihr immer wieder gelang, ihn zum Lachen zu bringen; weil er sie zur Station hatte zurückkehren lassen; weil er beim Schach gewann und beim Hockey verlor; weil er in Windeseile zur Geburt der kleinen Eisbären laufen konnte; weil sein Atem selbst in menschlicher Gestalt nach Robbe roch; weil seine Hände so zärtlich waren; weil er ihr Bär war. »Weil ich meinen Mann zurückhaben will«, sagte sie laut. Und, fügte sie im Stillen hinzu, weil mein Baby ein Recht darauf hat, seinen Vater kennenzulernen.
»Bitte, rufe die Winde!«
»Also gut.«
Der Drache ließ ein gewaltiges Brüllen zum Himmel aufsteigen. Wind wirbelte schneller und schneller um den Berg. Geröll löste sich und polterte in Wolken von Staub den Hang hinunter. Cassie hielt schützend die Arme vors Gesicht.
»Jetzt!«, rief der Drache.
Cassie schlang die Arme um ihren Bauch und sprang in die Tiefe. Wind riss ihr die Worte vom Mund: »Großvater! Nordwind!« Sich überschlagend, fiel sie in Spiralen abwärts. Grün und golden raste von unten der Wald auf sie zu. »Wind-Munaqsri!« Laut wie ein Schrei strömte die Luft an ihr vorüber.
Plötzlich fuhr der Wind aus zwei verschiedenen Richtungen auf sie zu. Cassie wurde zusammengepresst und nach oben geschleudert. Sie trudelte in der Luft umher wie ein loses Blatt und wurde über die Spitze des Drachenberges gewirbelt. Schneebedeckte Bergspitzen drehten sich unter ihr im Kreis. Oh, oh! Gleich würde sie sich übergeben. »Nordwind!«, schrie sie noch einmal mit aller Kraft.
»Armes Kind. Sie weiß nicht mal, wo Norden und Süden ist.«
Eine Stimme wirbelte um sie herum, fegte unter ihr durch und über sie hinweg. Sie schien von überall zu kommen.
Wolkenfetzen jagten an ihr vorbei. War das etwa einer von Gails Onkeln? »Südwind?«, rief Cassie.
»Los, lass sie fallen!« Eine zweite Stimme rauschte an Cassies Ohren vorüber. »Sie bedeutet uns nichts.«
Cassie sackte nach unten. Sie strampelte, versuchte, sich irgendwo festzuhalten. Wolken schlüpften zwischen ihren Fingern hindurch, legten sich als feuchtkalter Nebel auf ihre Haut. »Ich bin eure Nichte! Ich bin Gails Tochter!« Unter ihr wand sich der Yukon als schmales blaues Band durch die Berge. So winzig, so tief unten. »Bitte, lasst mich nicht fallen!« Eine starke Bö erfasste sie, und Cassie überschlug sich mehrmals in der Luft. Wind umtoste sie und verschluckte ihre Schreie.
»Los, Ost, wir behalten sie«, sagte die erste Stimme – der Südwind.
Wieder fuhr eine Bö unter ihr durch, und sie wurde nach oben gewirbelt, höher und höher und höher. »Ihr könnt mich nicht behalten!«, schrie
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