Ice - Hüter des Nordens - Durst, S: Ice - Hüter des Nordens
Munaqsri. Transportierte er wirklich Seelen? Waren die Zimmer etwa geheime Verstecke für Seelen?
Cassie machte einen Schritt auf die erste Tür zu und hielt wieder inne. Sie war nicht als Forscherin hier. Denk an den Mann, dachte sie. Denk an den Eisbären. Denk an deine Mutter . Sie musste den Bären finden und darauf bestehen, dass er sie nach Hause brachte. Sie warf einen Blick über die Schulter und eilte die Treppe hinunter.
Cassie fand den König der Eisbären im Festsaal. Als sie ihn erblickte, blieb sie unter der Tür stehen. Vor ihm lag eine Robbe auf dem Tisch. Seine Schnauze hatte rote Flecken, und die Tafel aus weißem Eis war mit leuchtend roten Blutspritzern übersät. Der Bär wischte sich mit der Tatze über die Schnauze, als ob ihm seine Tischmanieren peinlich wären. »Bitte entschuldige«, sagte er. »Ich dachte, du schläfst.« Geronnenes Blut bedeckte nicht nur seine Schnauze, sondern auch seine Pfoten. Cassie musste plötzlich an ihr eigenes Blut denken und daran, wie dünn ihre Haut war. Diese Reißzähne und Klauen konnten sie zerfetzen wie ein Stück Papier.
Statt auf seine kräftigen Kiefer konzentrierte sie sich auf die Karibu-Skulptur in der Wandnische hinter ihm. »Vorhin«, sagte sie und zwang sich, ihre Stimme gleichförmig und fest klingen zu lassen, »ist ein Mann in mein Zimmer gekommen.«
»Ich weiß. Das war ich.«
»Du?« Sie wurde kreidebleich. Aber … sie war sich ganz sicher, dass der Eindringling ein Mann gewesen war – er hatte Hände gehabt.
»Ich wollte es dir ja erklären«, sagte er sanft. »Doch du hast mich mit einer Axt bedroht.«
Sie starrte ihn an, und er leckte sich ein wenig geronnenes Blut von der Schnauze. »Du kannst menschliche Gestalt annehmen? Wie, warum?«
»Ich wollte dich überraschen«, sagte er. »Erinnerst du dich: Ich habe dir erzählt, dass ich Materie verändern kann. Wir können die Gestalt der Spezies annehmen, die uns anvertraut ist. Oder auch eine andere. Es muss noch nicht einmal unsere ursprüngliche Gestalt sein. Ich bin nicht immer so, wie du mich jetzt hier vor dir siehst. Ich dachte, du würdest dich freuen.«
Freuen? »Du hast dich in einen Menschen verwandelt, und du bist in mein Bett gestiegen.«
»Es ist unser Bett«, sagte der Bärenkönig. »Mann und Frau teilen ein Bett.«
Sie betrachtete seine riesigen, blutverschmierten Pranken, und ihr wurde ganz schlecht. Mann und Frau. Nein. Sie würde nicht mit einem Fremden zusammen in einem Bett schlafen. Besonders nicht mit einem, der ein verzauberter Bär war.
Jede Faser ihres Körpers wollte aus dem Festsaal rennen. Bleib ruhig! ermahnte sie sich. »Ich habe meinen Teil der Abmachung erfüllt«, sagte sie. »Ich habe dich geheiratet. Und jetzt will ich die Scheidung.«
»Ich habe dir Angst gemacht«, sagte er. »Das tut mir leid. Es war nicht meine Absicht. Bitte, gib mir noch eine Chance! Ich werde überaus charmant sein.«
Sie sah ihn an. Getrocknetes Blut klebte in seinem Fell, und an seinem Maul hingen kleine Stückchen Robbenfleisch. »Und selbst wenn du der Casanova unter den Eisbären wärst«, sagte sie, »ich werde nicht hierbleiben.«
»Urteile nicht zu schnell über mich«, sagte der Bär. »Du bist doch eben erst angekommen.«
Cassie blickte auf die tote Robbe. Sie war nur noch eine blutige, zerfetzte Masse. Er fraß wie ein Eisbär und sprach wie ein Mensch. Sie konnte ihn nicht einschätzen. Er befand sich weit außerhalb all dessen, was im Bereich des Möglichen lag und was ihre Verstandeskraft beurteilen konnte.
»Du bist anders als alles, was ich jemals gekannt habe«, fuhr er fort. »Du bist Klarheit. Du bist Licht. Du bist Feuer. Ich komme aus einer Welt aus Eis.«
Sie fröstelte. Es hörte sich so an, als ob er wirklich meinte, was er sagte. Niemand hatte jemals auf ähnliche Weise mit ihr gesprochen. Sie spürte, wie sie aus dem Gleichgewicht geriet. »Oh?«, sagte sie. »Weißt du, was herauskommt, wenn man Feuer und Eis zusammenbringt?«
Er sah sie mit seinen undurchdringlichen Bärenaugen an. »Sag es mir!«
»Lauwarmes Wasser«, sagte Cassie. »Ich will nach Hause.«
»Ich brauche dich«, sagte er. »Ich brauche dich als meine Frau.«
Auch das hatte noch niemals jemand zu ihr gesagt. Sie schluckte. »Warum?«, fragte sie dann. »Warum ausgerechnet mich? Warum überhaupt eine menschliche Frau? Warum keine Bärin?«
»Weil ich keine Bärenkinder will«, antwortete er.
Einen Moment lang setzte Cassies Atem aus. Kinder.
»Nur die Kinder der
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