Ice - Hüter des Nordens - Durst, S: Ice - Hüter des Nordens
Cassie wünschte, sie könnte sich an sie erinnern. Sie würde ihr genauso fremd sein wie … wie der Bär. Plötzlich bekam die Vorstellung, ihre Mutter wiederzusehen, etwas furchtbar Erschreckendes.
Der Bär blieb am Fuß einer Treppe stehen. Bernsteinfarbenes Kerzenlicht leckte über sein Fell. Seine Augen waren unergründliche Schatten. In der Dunkelheit wirkte er wild und ungezähmt. »Du findest dein Schlafzimmer oben an der Treppe«, sagte er. »Du solltest dir eine Kerze mitnehmen.«
Sie nahm eine Kerze aus einem der Wandleuchter. Selbst das Wachs war aus Eis und wie alles andere auch trotzdem nicht kalt.
»Ich hoffe, du wirst dich hier wohlfühlen«, brummte der Bär.
Sie hatte nicht vor, lange genug zu bleiben, um sich wohl oder unwohl zu fühlen. Nur lange genug, um sicherzugehen, dass ihre Mutter frei war. Dann würde sie von ihm verlangen, sie zurückzubringen. Doch fürs Erste erwiderte sie nichts. Sie hielt einfach nur die Kerze umklammert und starrte ihn an.
Er zog sich zurück in die blaudunklen Schatten, dann war Cassie allein. Sie hob die Kerze höher, und das kleine Licht fiel schimmernd auf die Stufen. »Nur so lange, bis sie frei ist«, flüsterte sie. Ein frostiger Schauer überlief sie, obwohl es gar nicht kalt war.
Kapitel Fünf
Geografische Breite: 91°00 ' 00 " N
Geografische Länge: unbestimmt
Höhe: 4,60 m
Wie der Bär gesagt hatte, fand Cassie am Ende der Treppe ein Schlafzimmer. Sie stieß die Tür auf, eine dicke Scheibe undurchsichtigen, türkisfarbenen Eises, und hielt die Kerze hinein.
»Oh, wow!«, entfuhr es ihr.
Alles hier drin sah aus, als wäre es mit Diamanten übergossen: Schrank, Waschbecken, Tisch, Bett. Das Gewölbe des Himmelbetts schwang sich beinahe fünf Meter hoch in die Luft und bestand ganz aus schimmernden Eisrosen, miteinander verwoben wie Spitze. Die vier Bettpfosten waren wie Stoßzähne von Narwalen geformt.
Cassie legte ihre Hand an einen der sanft geschwungenen Bögen. Wie alles Eis in diesem Schloss, so fühlte auch er sich warm und trocken an, wie Holz. Auf dem Bett türmten sich hüfthohe Federmatratzen und ein Stapel Kissen, der ihr bis zum Kinn reichte.
Cassie trat in das Zimmer und stellte die Kerze auf einem Nachttisch ab. Dann nahm sie ihren Rucksack ab und öffnete den Schrank. Von einem einzelnen Kleiderbügel flatterte ihr ein Nachthemd entgegen. Cassie strich über das seidige Gewebe. War das für sie? Wieso sollte der Bär wollen, dass sie so etwas trug? Energisch schob sie diesen Gedanken beiseite, schloss die Schranktür und setzte sich auf den Rand des Bettes. Ihre Gedanken wanderten zu Grams Geschichte, der einzigen Verbindung zu ihrer Mutter, die es wirklich gab. Es war einmal … Alles, was sie über ihre Mutter wusste, stammte aus einem Märchen.
Sie lehnte sich in die Kissen zurück und versuchte, sich ihre Mutter vorzustellen, die Tochter des Nordwinds. Und ohne es zu wollen, schlief sie ein. Sie träumte von einer dunkelhaarigen Frau und einem Eisbären, die mitten in einem arktischen Schneegestöber einen Handel schlossen. Als Cassie genauer hinsah, bemerkte sie, dass die Frau ihr Gesicht hatte.
Einige Minuten oder Stunden später wurde Cassie von einem kratzenden Geräusch geweckt. Es war stockdunkel. Automatisch tastete sie nach ihrer Nachttischlampe. Plötzlich fielen ihr drei Dinge gleichzeitig ein: Sie war nicht zu Hause in ihrem Bett, sie hatte keine Streichhölzer für die Kerze, und ihre Taschenlampe steckte in ihrem Rucksack. Blitzschnell schoss sie hoch. »Wer ist da?«, fragte sie und lauschte angestrengt.
Nichts war zu hören.
Der Bär hatte gesagt, ihr würde innerhalb dieser Mauern kein Leid geschehen. Konnte sie ihm trauen? »Deine Fantasie geht mit dir durch«, sagte sie sich und ließ sich wieder in die Kissen fallen.
Die Matratze neben ihr sank ein.
Sie packte die Decke und sprang aus dem Bett. »Raus hier!«
»Hab keine Angst«, sagte eine unbekannte Stimme. Sie gehörte einem Mann.
Verdammt, hätte sie doch gleich ihre Taschenlampe geholt, als sie aufgewacht war! Ihr Herz pochte laut, während sie ihren Rücken gegen die Wand presste und sich Stück für Stück an ihr entlang Richtung Rucksack schob. Als sie das Waschbecken umrundete, berührte eine Hand ihren Arm. Sie stieß ihren Ellbogen nach hinten, so fest sie konnte und spürte, wie der Mann zusammenklappte. »Rühr mich nicht an!«, sagte sie.
»Ich will dir nicht wehtun«, keuchte er.
Sie bewegte sich weiter auf ihren Rucksack zu. Wo
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