Ice - Hüter des Nordens - Durst, S: Ice - Hüter des Nordens
macht.«
Sie spürte, wie ihr die Hitze in die Wangen stieg. Ihr war zumute, als könnte sie zur Decke emporschweben. »Romantiker.«
Er legte eine Tatze über seine Nase und tat so, als wäre es ihm peinlich.
Cassie öffnete einen anderen Ordner. Sie wollte ihm alles zeigen. »Schau, das hier ist eine Liste aller aktuellen Markierungsnummern der Spezialabteilung für Eisbärenforschung der Weltnaturschutzunion.«
»Komm«, unterbrach sie Bär und stupste sie mit der Nase an. »Wir haben morgen einen langen Tag vor uns.«
Cassie grinste. Draußen auf dem Eis, gemeinsam. Sie legte den Ordner mit den Markierungsnummern zurück auf den Tisch und ging Seite an Seite mit Bär aus dem Saal, vorbei an den wundervollen Schnitzereien in tiefblauem Eis und die von Kerzenschein erleuchtete Treppe hinauf.
»Weißt du, für dich habe ich eine ganz besondere Nummer reservieren lassen: A505, Alaska.«
»A505«, wiederholte Bär.
»Ich glaube, die Marke würde dir gut stehen. Wie ein Ohrring.«
Sie zottelte sein Ohr. Immer wieder musste sie ihn anfassen. Sie konnte gar nicht damit aufhören. Es erinnerte sie daran, dass er real war. »Ganz zu schweigen von der grünen Tinte auf deinem Zahnfleisch. Sehr attraktiv.«
Wie immer wartete Bär auf dem Flur, während Cassie sich bettfertig machte. Als sie unter die Decke geschlüpft war, blies sie die Kerze aus, und alles versank in Dunkelheit. Ein leises Tapsen von Bärenpfoten und dann die Schritte eines Mannes. Die Matratze sank ein, als er sich neben ihr ins Bett legte.
Und zum ersten Mal seit fünf Nächten schlief sie wieder gut.
Cassie erwachte als Erste, die Wange an seine nackte, glatte, menschliche Brust geschmiegt, den Arm quer über seinem Bauch. Eine ganze Weile lag sie einfach nur so da und lauschte seinem Atem, dem Atem ihres Ehemanns. Dann streckte sie im Dunkeln die Hand aus und berührte ganz vorsichtig sein Gesicht. Ihre Finger erkundeten die Form seines Kinns und verweilten auf seinen Lippen. Sie hatte ihn noch nie geküsst. Wie sich das wohl anfühlen mochte?
Auf einmal bewegte er sich. Blitzschnell zog sie ihre Hand weg und rollte sich auf ihre Seite des Bettes. »Bereit zur Patrouille?«
Die Bettdecke glitt zur Seite, die Matratze hob sich. Er stand auf.
»Wir gehen doch zusammen, oder?«, fragte sie.
Ein Windhauch strich über ihr Gesicht. Als er sprach, hatte er wieder seine tiefere Stimme, die Eisbärenstimme. »Aber natürlich, o furchtlose Führerin.«
Sie grinste.
Die Tür wurde geöffnet. Cassie wartete, bis sie mit einem leisen Klicken wieder zuging. Dann tastete sie nach ihrer Taschenlampe und machte Licht. Eilig zog sie ihre komplette Expeditionsausrüstung an – Gore-Tex-Hose, Mukluks, das volle Programm – und stieß zu Bär, der am vorderen Torbogen auf sie wartete. Wenig später jagte er bereits übers Eis dahin, Cassie auf seinem Rücken.
Vor ihnen breitete sich die Arktis aus, voll blauer Schatten und so endlos weit wie die Sahara. Cassie beugte sich tief über Bärs Hals. Wind peitschte ihr Gesicht. Herrlich. Überwältigend. Das war viel zu langsam. Sie schrie Bär einen Befehl ins Ohr, den Hundeschlittenführer verwendeten, um ihre Tiere anzutreiben: »Musch, musch, musch!«
»Sehr amüsant«, erwiderte er und schoss wie ein Pfeil davon. Sie jauchzte überrascht auf, als das tiefe Blau der Polarnacht sich ausdehnte und eins wurde mit Himmel und Eis. Ja! Sie flog! Cassie winkte dem Mittagsmond zu, der tief und fett über dem südlichen Horizont hing.
Bär setzte über einen Presseisrücken hinweg. Laut lachend krallte Cassie sich in seinem Pelz fest und umklammerte mit den Beinen ganz fest seine Körpermitte, um nicht herunterzufallen. Das war einfach herrlich! Sie hätten es schon vor Monaten tun sollen.
Mit zusammengekniffenen Augen spähte Cassie in die dunkle Weiße. An den Rändern ihrer Wahrnehmung leuchteten grüne und weiße Blitze auf, Nordlichter, deren Spiralen sich über den Himmel schlängelten. Den Legenden der Inuit zufolge waren es die tanzenden Geister der Verstorbenen . Kamen die verlorenen Seelen der Sterbenden, bei denen die Munaqsri nicht rechtzeitig eintrafen, um sie zu den Neugeborenen zu bringen, vielleicht dorthin? Mach dich nicht lächerlich! , ermahnte sie sich. Nordlichter wurden verursacht von elektrisch geladenen Sonnenpartikeln, die auf die höheren Schichten der Atmosphäre trafen, und nicht von herumirrenden Seelen. Die Seelen gingen. Sie hatte keine Ahnung, wohin verlorene Seelen gingen.
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