Ice - Hüter des Nordens - Durst, S: Ice - Hüter des Nordens
hieb er mit der Faust auf den Tisch. Papierstapel verrutschten, und Owen fuhr vor Schreck zusammen. »Glaubst du etwa, das war eine leichte Entscheidung?«
Es war keine Entscheidung gewesen, sondern Feigheit. Warum sonst hatte er Cassie die ganzen Jahre über angelogen und es am Ende Gram überlassen, ihr alles zu erzählen? Scham war eine mächtige Antriebskraft. Sie wusste, er wünschte sich, er hätte Gail gerettet. Sie hatte das Bedauern in seiner Stimme gehört, in jener ersten Nacht nach ihrer Rückkehr, als sie ihre Eltern belauschte. Sie nahm den Rucksack auf die Schultern.
»Ich verbiete es dir.« Dad versperrte den Ausgang. »Du weißt ja gar nicht, was du tust.«
Cassie wandte sich ihrer Mutter zu. »Rede du mit ihm!«
»Aber ich … «, begann Gail.
»Die Geschichte wiederholt sich«, fuhr Cassie fort. »Dein Vater wollte auch nicht, dass du gehst.«
Verdutzt starrte Gail ihren Ehemann an.
»Das ist ganz und gar nicht dasselbe«, protestierte der. Aber Cassie konnte sehen, dass ihre Mutter sie sehr wohl verstand. Es war dasselbe. Während ihr Vater weiter tobte, betrachtete sie Gails Gesicht. Die Frau wachte jede Nacht schreiend auf, aus Angst, erneut eingesperrt zu werden. Würde sie zulassen, dass ihre eigene Tochter irgendwo gefangen gehalten wurde, gegen ihren Willen? Cassie kannte sie nicht gut genug, um sicher zu sein, aber sie wettete, dem war nicht so.
Gail bohrte ihre roten Fingernägel in den Arm ihres Mannes. »Lass sie gehen, Laszlo!«
Fassungslos drehte er sich zu ihr um. »Weißt du, was du da sagst? Du willst unser einziges Kind, unser süßes kleines Mädchen , der Gnade eines Bären ausliefern?«
Gail hob den Kopf. Sie hatte nicht die Absicht nachzugeben. Mit großen Augen starrte Max zwischen ihnen dreien hin und her, als beobachtete er ein hochspannendes Tischtennismatch. Owen hatte hinter der Tür zu seiner Werkstatt Deckung gesucht. Dad knickte zuerst ein. Er senkte den Blick und sagte: »Cassie, bitte tu das nicht! Es ist nicht sicher. Und klug ist es auch nicht. Du handelst wieder mal vorschnell. Warte noch eine Weile und entscheide dann! Verlass uns nicht so früh!«
Gail streckte eine Hand nach Cassie aus und ließ sie wieder sinken. »Cassandra … Cassie … Ich habe doch gerade erst angefangen, dich kennenzulernen.« Cassie blickte ihre Mutter an. Was sollte sie dazu sagen? Dass Zeit, egal wie lange sie noch hierblieb, nicht ausreichte, um all die verlorenen Jahre zu überbrücken? Das brachte sie nicht übers Herz. Es war besser, einfach zu gehen.
»Bleib bei uns!«, bat Dad. »Wir sind deine Familie. Dies ist dein Zuhause. Bitte, überleg es dir noch mal! Denk darüber nach, was du aufgibst!« Max hatte Tränen in den Augen, und auch Gail war dem Weinen nahe.
Cassie blickte sie an, einen nach dem anderen, und auch ihre Augen fingen an zu brennen. Schnell blinzelte sie die Tränen weg. »Sagt Großmutter, es tut mir leid, dass wir uns nicht gesehen haben.«
Dann ging sie schnell nach draußen, bevor sie es sich anders überlegen oder jemand sie aufhalten konnte. Stille fuhr auf sie nieder wie ein Donnerschlag, als sie die äußere Tür schloss. Cassie atmete tief durch, und die Kälte bohrte sich schmerzvoll in ihre Kehle. Dann tastete sie sich an der äußeren Begrenzung der Station bis zum Fahnenmast vor. Dort angekommen, zog sie inmitten der blendend weißen Finsternis eines arktischen Schneesturms das Sternenbanner hoch.
Kapitel Zwölf
Geografische Breite: 79° 48 ' 44 " N
Geografische Länge: 153° 37 ' 58 " W
Höhe: 2 m
Bär trug sie nordwärts, und Cassie schmiegte ihre Wange in das weiche Fell an seinem Hals. Sie badete in seinem Duft – kuschelige Wärme und Meersalz – , während sie über das endlose Eis preschten. Über ihnen zwischen den Sternen spielte das Nordlicht. Sie erinnerte sich daran, wie Bär sie das erste Mal von der Station weggebracht hatte. Jetzt nahmen sie denselben Weg, doch diesmal wusste Cassie, was sie an seinem Ende erwartete. Oder zumindest hoffte sie, es zu wissen. Was, wenn Bär ihren Plan ablehnte?
Viele Stunden später erreichten sie das Schloss. Cassie sah die spitzen Türme im Licht des Mondes leuchten. Bär verlangsamte das Tempo. Eiskörnchen knirschten unter seinen Pfoten.
»Wir sind zu Hause«, sagte Cassie mit weicher Stimme.
Bär hielt inne, und Cassie wusste, dass er ihre Worte gehört hatte. Sie schlang die Arme um seinen mächtigen Hals und drückte ihn fest. Dann glitt sie von ihm herunter und ging durch
Weitere Kostenlose Bücher