Ice - Hüter des Nordens - Durst, S: Ice - Hüter des Nordens
Vögel in ihren Eingeweiden gefangen. Ihre Knie gaben nach, und sie musste sich an der Wand abstützen.
Oh nein! Nein, nein! Wie konnte sie bloß schwanger sein? An die raue Rinde geschmiegt, kauerte sie in der Dusche. Wasser strömte über sie hin. Das klatschnasse Haar klebte auf ihrer Haut. Sie war noch gar nicht bereit, Mutter zu werden!
Bis jetzt hatte sie es vermieden, allzu viel über das Thema nachzudenken. Doch das Baby wartete nicht, bis sie sich mit dem Gedanken angefreundet hatte. Mit jedem Tag ging es seiner Geburt einen Schritt weiter entgegen.
Cassie zwang sich zu einem tiefen, langen Atemzug. Sie musste Ruhe bewahren. Bär würde ihr helfen. Sie würde nicht damit allein sein. Er würde wissen, wie man mit einem Baby umging – einem Munaqsri-Baby. Wenn sie und Bär erst einmal wieder zusammen waren, konnten sie sich dieser Aufgabe gemeinsam stellen.
Entschlossen richtete Cassie sich auf und trocknete sich mit einem Handtuch aus kunstvoll ineinander verwobenen Farnwedeln ab. Es zerfiel auf ihrer Haut. Sie musste nur rechtzeitig Bär finden, und alles würde gut werden. Mit der Hilfe von Großvater Wald würde alles gut werden.
Sie nahm die frischen Sachen aus dem Schrank und faltete sie auseinander. Zum Vorschein kam ein Trachtenkleid. Es bestand aus einem blattgrünen Oberteil und einem formlosen rindenbraunen Rock. Baumwollunterwäsche fiel auf den Boden. Cassie starrte das Kleid an. Niemand, der vorhatte, den borealen Nadelwald zu durchqueren, würde ein Trachtenkleid tragen. Sie durchsuchte den Schrank nach anderen Sachen. Doch sie fand lediglich puppenhafte Schläppchen. Die waren noch schlimmer als das Kleid – sie würden auf dem Weg durch den Wald nach wenigen Schritten auseinanderfallen. Was hatte sich Großvater Wald nur dabei gedacht?
Cassie warf einen Blick auf ihre nassen Sachen, die sie zum Trocknen über einen Zweig gehängt hatte. Ihr blieb keine Wahl. Wenn sie nicht nackt umherlaufen wollte, würde sie das Kleid anziehen müssen. Sie schlüpfte hinein und sah stirnrunzelnd an sich hinab. »Lächerlich«, sagte sie laut.
Dann zog sie ihre alten Mukluks an und ging nach draußen. Dort fand sie Großvater Wald, bis zur Hüfte in Farnkraut stehend. Als sie auf einen der singenden Steine trat, hob er den Kopf und strahlte sie an. »Gut geschlafen?«
»Vollkommen ausgeruht und fertig zum Abmarsch«, verkündete Cassie. »Danke für deine Gastfreundschaft.« Sie hatte beschlossen, das Kleid mit keinem Wort zu erwähnen. Wahrscheinlich hatte er gar nichts anderes da. Und seine Zwergenhosen wären ihr viel zu klein. Sie sollte nicht undankbar sein nach allem, was er für sie und Bär getan hatte.
Er verzog das Gesicht, bis es aussah wie eine alte Backpflaume. »Jetzt nicht!«
Sie hatte gespürt, wie sich das Baby bewegte. Sie wollte keine Minute länger warten. »Warum nicht?«
Großvater Wald wies auf den von Farnwedeln bedeckten Hof. »Der Farn steht kurz vor dem Aussamen.«
Sie sollte wegen des Farns warten? Sie hatte doch nicht die gesamte Arktis durchquert, um sich jetzt von so etwas aufhalten zu lassen. »Bär wartet auf mich«, erwiderte sie.
»Der Farn kann nicht warten«, gab er zurück.
Zähneknirschend rief Cassie sich ins Gedächtnis, dass er sie mit Essen und Kleidung versorgt hatte. Ein wenig Arbeit auf dem Hof schien ein fairer Preis dafür zu sein. »Also gut«, sagte sie bemüht freundlich. »Ich werde dir helfen.«
Er lächelte, und die Fältchen um seine Augen ließen ihn wieder aussehen wie den Weihnachtsmann. Dann kniete er sich hin und zeigte ihr, wie sie die Samen von der Unterseite der Farnwedel ernten, sie über den Hof verteilen und mit einer Schicht weicher Kiefernnadeln bedecken musste. Er benahm sich wie ein Kind, das seinem Freund ein neues Spielzeug vorführt. »Schwerkraft und Wind können das ebenso gut«, meinte Cassie.
»Du bist ja so naiv«, gab er liebevoll zurück. »Das ist wirklich charmant.«
Cassie runzelte verärgert die Stirn. »Wenn das hier erledigt ist, gehen wir zu Bär.« Dann beugte sie sich über die Farne und begann, mit ihren kurzen Fingernägeln die Samen von der Unterseite der Wedel zu kratzen und sie auf leeren Stellen im Hof zu verstreuen.
»So ist es gut«, murmelte Großvater Wald und ließ sie nicht aus den Augen.
Es war genauso sinnlos, wie Herbstlaub von den Bäumen zu pflücken. Cassie kratzte und streute, kratzte und streute, so schnell sie konnte. Bär wartete auf sie. Cassie sah ihn vor sich, wie er in einem
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