Ice - Hüter des Nordens - Durst, S: Ice - Hüter des Nordens
Nu steckte sie vom Hals bis zu den Füßen in einem starren Kokon aus Rinde.
Bald würde der Weinstock sie gänzlich verschlungen haben, und sie wäre eingeschlossen wie damals im Eissturm in ihrem Schlafsack. Furchtbare Angst schnürte ihr die Kehle zu. »Ich kann das nicht«, wisperte sie. »Ich kann nicht. Ich kann nicht.«
Alles konnte sie ertragen, aber nicht das: gefangen sein, vollkommen hilflos, ohne Kontrolle über ihren eigenen Körper. Sie atmete tief durch, kämpfte die Angst nieder. Ihre Rippen drückten gegen das Holz. Sie nahm einen weiteren Atemzug, und die Ranken reagierten, pressten alle Luft aus ihr heraus. Cassie wusste sich nicht mehr zu helfen und bettelte: »Bitte, zerquetscht mich nicht! Bitte, bitte!«
Die Ranken gaben einen Zentimeter nach, und sie nahm schnelle, winzige Atemzüge. Sie rief sich ins Gedächtnis, dass sie immer noch denken und reden konnte, dass der Wein weder ihren Geist noch ihre Zunge einschnüren konnte. Bei der Vorstellung, wie sich die Ranken um ihre Zunge wickelten, erbebte sie heftig. Die feste Umklammerung des Kokons milderte das Beben zu einem leichten Schaudern ab. Sie hatte nicht gewusst, dass Großvater Wald über solch große Macht verfügte. Obwohl sie es hätte wissen können – Bär besaß diese Macht ja auch. Aber Bär setzte sie niemals auf diese Weise ein. Als sie gehen wollte, hatte er sie gehen lassen.
Nur ein einziges Mal hatte er ihr gegenüber ohne ihre Zustimmung von seinen Kräften Gebrauch gemacht.
Zum hundertsten Mal ließ Cassie das Gespräch in ihrem Kopf ablaufen. Bär hatte darauf bestanden, es sei ein Missverständnis gewesen. Er habe gehofft, sagte er, dass sie selbst genauso glücklich darüber sei wie er, wenn sie erst einmal verstanden habe, wie wichtig ein Munaqsri-Kind sei. Jetzt, nachdem sie am eigenen Leib erfahren hatte, wie die anderen Munaqsri darauf reagierten, dass sie einen von ihnen unter dem Herzen trug, konnte sie es endlich glauben. Er hatte sie nicht hintergehen oder benutzen oder verraten wollen. Vielleicht hatte er sich selbst etwas vorgemacht, aber er hatte ihr nicht wehtun wollen.
Neun Stunden später hörte Cassie das Lied der Steine. Der Kokon, der jetzt so dick war wie drei Körper und die ganze Zeit vollkommen reglos von der Decke gehangen hatte, drehte sich so, dass sie mit dem Rücken zur Tür baumelte. Als diese geöffnet wurde, fiel ein Streifen Sonnenlicht unter ihr auf den Fußboden. »Großvater Wald?«
»Ja, mein Kind. Wie geht es dir?«
Cassie tat alles weh, und sie schwitzte höllisch in ihrer hölzernen Schale. Ihre Rippen schmerzten, ihre Blase platzte fast, ihre Haut juckte. Und er besaß die Frechheit, sie zu fragen, wie es ihr ging? Er traute sich, sie »mein Kind« zu nennen, als wäre er irgendein frommer, gütiger Priester? Sie war kein Kind, und seins schon gar nicht. »Du musst mich gehen lassen.«
Er schloss die Tür, und der Lichtstreifen erlosch. »Es tut mir leid«, antwortete er, »aber du lässt mir keine Wahl.« Sie hörte das Schlurfen seiner Füße auf dem Boden. Sehen konnte sie ihn nicht, denn sie hing mit steifem Hals von der Decke, den geschnitzten Schränken zugewandt.
»Du machst einen Fehler«, sagte sie.
Großvater Wald humpelte durch ihr Blickfeld und stellte einen Topf auf den Herd. »Du bist stur und leichtsinnig. Das seid ihr Jungen oft. Und solange das so ist, ist es an uns Älteren, dafür zu sorgen, dass euer selbstsüchtiges Verhalten keine bleibenden Schäden anrichtet. Du riskierst das Leben eines Munaqsri, und das kann nicht zugelassen werden.«
»Aber Bär ist auch ein Munaqsri!« Warum wollte das denn niemand verstehen? Sie war doch auf ihrer Seite, versuchte, einem von ihnen zu helfen! Cassie zwang sich, ihre Stimme ruhig und normal klingen zu lassen. »Wenn du mich hierbehältst, sind die Eisbären dem Tod geweiht.«
Mitleid huschte über sein Gesicht. »Der Bär ist fort«, sagte er sanft. »Ich weiß, das ist schwer zu akzeptieren, aber er ist jetzt jenseits dieser Welt. Er könnte genauso gut tot sein.«
»Er ist aber nicht tot!« Cassie zuckte und zappelte, und die Ranken zogen sich wieder fester zusammen.
»Du musst jetzt an das Kind denken. Und die Eisbären werden sowieso aussterben«, fuhr er fort. »Du musst seinen Verlust akzeptieren und … «
»Das werde ich nicht tun. Er ist nicht tot!« Alles, aber nicht tot. Ihr Verstand weigerte sich, das zu denken. Es war eine Lüge. Bär war gefangen, wartete darauf, dass jemand kam, um ihn zu
Weitere Kostenlose Bücher