Ice - Hüter des Nordens - Durst, S: Ice - Hüter des Nordens
Käfig auf und ab lief, während die Trolle ihm Stöcke in den Leib stießen und über ihn lachten. Sie hasste die Vorstellung, dass er gefangen und hilflos war. Sie kratzte immer schneller und riss die zarten Wedel in Fetzen.
Großvater Wald dagegen pfiff fröhlich vor sich hin. Bedächtig beugte er sich über jeden Farn, nahm jedes Samenkorn einzeln ab, betrachtete es eingehend im Licht der schräg stehenden Sonne, ließ seinen Blick über den ganzen Hof schweifen und legte es dann behutsam an seinen Platz. Cassie hätte ihn am liebsten durchgeschüttelt. Sie musste sich auf die Zunge beißen, um ihn nicht laut anzuschreien, er solle sich gefälligst beeilen.
Mittagszeit und Abendessen vergingen, und Cassie arbeitete immer noch. Großvater Wald kam und ging, wackelte davon, um den Geschäften eines Munaqsri nachzugehen (oder, dachte sie, um sich eine oder zwei Stunden lang am Ellenbogen zu kratzen). Während sie stöhnend ihren Rücken durchdrückte, schnupperte er an den Rosen, die die Fenster der Hütte umrankten, und bog jedes einzelne Blütenblatt zurück, bis sich die Blüten voll entfaltet hatten. Der alte Mann, dachte Cassie, war ein Kinnaq, ein Irrer. Doch solange er sie zu Bär brachte, war ihr das ziemlich egal. Sie beendete ihre Arbeit. »Können wir jetzt endlich gehen?«
Großvater Wald arrangierte die Blütenblätter wie ein Künstler. »Alle Samen verteilt?«
Sie ließ ihren Blick über den Hof schweifen. »Ja.«
Er deutete auf den Wald. »Und die dort?«
Cassie schaute sich um. Hinter dem Gartenzaun erstreckte sich endlos der Nadelwald. »Das soll wohl ein Scherz sein.«
Er ließ sie einfach stehen.
Cassie spürte, wie sich das Kind in ihr bewegte, und legte automatisch die Hände über ihren Bauch. Wenn sie kooperierte, dann würde ihr dieser Kinnaq helfen, Bär zu finden. Sedna hatte gesagt, er würde ihr helfen. Sogar die Eule hatte gemeint, Cassie könne sich auf ihn verlassen, er wisse, was am besten zu tun sei.
Zum ersten Mal fragte sie sich, was genau wohl mit »das Beste« gemeint sein mochte.
Sie ging zurück zum Häuschen. Still und friedlich stand es da, wie gemalt, und die nie untergehende Sonne übergoss sein Dach mit warmem, bronzefarbenem Licht. Cassie wollte auf keinen Fall eine weitere Nacht ohne Bär verbringen. Großvater Wald musste das einfach einsehen.
Entschlossen betrat sie die Hütte und durchquerte die Küche. Sie fand ihren Gastgeber faulenzend in einem hölzernen Schaukelstuhl im Wohnzimmer. Als sie hereinkam, sah er auf. »Schon fertig?«
»Ich will meinen Mann zurück«, sagte Cassie.
»Und ich will meinen Tee«, erwiderte er. »Komm, wir trinken zusammen Tee und reden.« Er schlurfte in die Küche und nahm den Kessel vom Herd.
»Bär braucht Hilfe«, sagte Cassie so gleichmütig, wie sie konnte. Bärs Rettung war wichtiger als Tee oder Farne oder Duschen oder Schlafen. Bärs Rettung war wichtiger als alles andere auf der Welt. Sie folgte Großvater Wald in die Küche. »Es ist nicht so, dass ich deine Gastfreundschaft nicht zu schätzen wüsste. Aber jede Sekunde, die Bär länger in der Troll-Festung bleibt, ist eine zu viel. Bitte, versuch doch, mich zu verstehen!«
Er goss zwei Tassen Tee ein. »Möchtest du nicht doch einen?«
Cassie hätte vor Frust am liebsten geschrien. Stattdessen biss sie die Zähne zusammen und versuchte zu lächeln. »Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich denken, du versuchst ganz bewusst, mich aufzuhalten.«
Er wackelte zu einem Wurzelstuhl, setzte sich hin und rührte in seinem Tee. Ohne sie anzusehen, erklärte er: »Du kannst nicht reisen mit dem Kind in deinem Bauch. Das Risiko ist zu groß.«
Cassie erstarrte. Sie musste sich verhört haben. »Wie bitte?«
»Tut mir leid, dass ich dich enttäuschen muss.«
Cassie war fassungslos. Sie schnappte zweimal nach Luft, bis sie schließlich herausbrachte: »Das verstehe ich nicht. Du musst mir helfen. Es ist doch deine Pflicht, mir zu helfen. Die Meerjungfrau hat gesagt, Munaqsri seien da, um das Gute zu tun. Ihr seid da, um zu tun, was das Beste ist.«
»Ich will ja auch nur das Beste. Und daher kann ich dir nicht gestatten, das Leben eines zukünftigen Hüters aufs Spiel zu setzen.« Wie er so auf seinem Stuhl thronte, die Füße über dem Boden baumelnd, sah er aus wie ein altes, verschrumpeltes Kind.
Cassie ballte die Hände zu Fäusten. »Das Risiko ist mir egal. Ich muss es einfach versuchen!« Ihr Vater hatte es nicht versucht, und was war passiert? Sie war
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