Ice - Hüter des Nordens - Durst, S: Ice - Hüter des Nordens
hingerissen und lachte vor Freude laut auf. Das hier war pure Magie – es hätte von Bär sein können. Der Wald-Munaqsri schnippte die Blütenbasis an, und der grüne Trieb löste sich in nichts auf. Er nahm den Kessel vom Herd und goss Tee in die Blüte. Dann reichte er sie Cassie. Die Blütenblätter fühlten sich warm und weich an. »Der wird dir schmecken«, sagte der Alte mit einem Lächeln. »Eine Spezialmischung. Für dich extra stark.«
Als sie den Blütenbecher an die Lippen hob, stieg ihr würziger, heißer Dampf in die Nase. Sie nahm einen kleinen Schluck. Der Tee schmeckte nach Kräutern und Kiefer. Sofort fühlte sie sich ruhiger. »Nochmals vielen Dank!«
»Ich habe dir ein Bett zurechtgemacht«, fuhr Großvater Wald fort. »Du musst dich mal richtig ausschlafen.«
Cassie schüttelte sich. »Nein, nein.« Ihre Zunge fühlte sich ganz dick an.
»So nahe dran.« Sie stand auf, und ihre Knie gaben nach. Großvater Wald nahm ihr die Blütentasse aus der Hand und stellte sie auf den Wurzelstuhl. Dann nahm er behutsam ihren Arm und führte Cassie zu einer der Türen. »Wenn du etwas brauchst, musst du nur rufen«, sagte er. »Die Bäume haben nämlich Ohren, weißt du?«
Das Baummädchen, das in einer Ecke der Hütte saß, kicherte – ein schrilles Geräusch. Es schabte durch Cassies Gehirn wie Eisenspäne. Ihr wurde schwindlig. Sie schüttelte den Kopf, um ihn wieder klar zu kriegen.
Der Alte führte sie in einen grünen Raum, in dem ein weiches Daunenbett stand. Cassie runzelte die Stirn. Sie wollte nicht schlafen. Sie wollte zu Bär. »Nein, nicht schlafen«, lallte sie undeutlich. Das Denken fiel ihr schwer. Das kommt von dem Tee, dachte sie benebelt. Aber er war doch so ein netter alter Mann. »Bär sehen wenn aufwache?« Sie versuchte, Großvater Wald in die Augen zu sehen, doch ihre Lider waren schwer wie Blei, und sie sank auf das Bett.
Er tätschelte ihren Arm. »Schlaf gut, meine Liebe. Und mach dir bitte keine Sorgen. Alles wird gut. Du wirst sehen.«
Aus einem Impuls heraus umarmte Cassie das Hutzelmännchen.
»Jaja, Liebes«, wiederholte er »Du wirst sehen.«
Kapitel Dreiundzwanzig
Geografische Breite: 63° 54 ' 53 " N
Geografische Länge: 125° 24 ' 07 " W
Höhe: 397 m
»Au, au, au!« Vorsichtig löste Cassie ihre langen Unterhosen von den Beinen – schmutzverkrustet und schweißdurchtränkt klebten sie an ihr wie eine zweite Haut. Es war, als würde man ein Heftpflaster abreißen. Sie schnitt eine schmerzvolle Grimasse. Ihr Gesicht und ihr Körper waren übersät mit zahllosen blutverkrusteten Schrammen zwischen blauen, violetten und gelben Flecken. Wie reizend! Sie stellte die Dusche an. Wasser sprudelte aus einer Felsspalte und floss zwischen einigen Wurzeln am Boden wieder ab. Cassie zuckte zusammen, als sie sich unter den eiskalten Wasserstrahl stellte.
Schlamm tropfte ihr von den Beinen und färbte das ablaufende Wasser braun. Großvater Wald hatte gesagt, sie würde im Badezimmerschrank neue Kleidung finden. Also wusch sie ihre gesamte Unterwäsche und auch alle langen Unterhosen. Abgesehen von dem Tee, der sie außer Gefecht gesetzt – ihr gleichzeitig aber, das musste sie zugeben, auch zu dem lange entbehrten, erholsamen Schlaf verholfen hatte –, erwies sich ihr Gastgeber als äußerst zuvorkommend. Sie fühlte sich wie ein Hotelgast oder, genauer gesagt, wie sich ein Hotelgast ihrer Vorstellung nach fühlen musste, denn sie war noch niemals in einem Hotel gewesen. Cassie schäumte ihren Körper mit einer Seife ein, die nach Kiefernnadeln duftete. Ah, wie sie das vermisst hatte! Dann widmete sie sich gründlich ihrer verfilzten Mähne. Grasbüschel landeten mit einem leisen Plopp auf dem Boden der Dusche. Eins davon war sogar Seegras.
Dunkle Tropfen klatschten gegen die Wände, als sie ihre nassen Haare kräftig ausschüttelte. Großvater Wald sollte heiliggesprochen werden, dachte sie. Endlich fühlte sie sich wieder wie ein Mensch. Wenn das hier vorüber war, würde sie Bär als Erstes darum bitten, ein neues Badezimmer aus dem Eis zu erschaffen. Sie stellte sich vor, wie sie gemeinsam das Schloss Stück für Stück wieder neu erbauten.
Wohlig die Glieder streckend, gab Cassie sich ganz diesem wunderschönen Tagtraum und dem prickelnden Gefühl frischen Wassers hin. Bis sie ein leichtes Flattern in der Bauchgegend verspürte.
Ihre Hände fuhren zu ihrem sanft gewölbten Leib. Sie spürte das Flattern ein zweites Mal. Es war, als wäre ein Schwarm winziger
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