Ice - Hüter des Nordens - Durst, S: Ice - Hüter des Nordens
Beinen zu wischen. Ihre Füße waren eiskalt und geschwollen. Irgendwann kam die Haut zum Vorschein. Sie hatte eine wächserne Farbe angenommen, über und über bedeckt mit dunkelroten Flecken. Als sie sie berührte, fühlte sie sich schwammig an, wie nasses, weiches Moos. »Entzückend«, sagte Cassie laut und mit beißendem Spott in der Stimme. So gut sie konnte, wischte sie ihre Füße trocken. Eigentlich sollte sie in diesem Zustand keinen Schritt mehr tun, das wusste sie. Aber je länger sie an einem Ort blieb, desto größer wurde die Wahrscheinlichkeit, dass Großvater Wald sie fand.
Ächzend stand sie wieder auf. Das Baby stieß mit dem Knie (oder dem Ellenbogen?) gegen die Bauchdecke. »Keine Angst. Ich gebe nicht auf«, sagte sie zu ihm. »Ich werde dafür sorgen, dass du in Freiheit zur Welt kommst.«
Dann bahnte sie sich mit Hilfe ihres Gehstocks einen Weg über Steine und Wurzeln, den Hügel hinunter. Hier und da fiel der Hang steil ab. An diesen Stellen musste sie Serpentinen laufen, um nicht abzustürzen. Unter sich sah sie das blaue Band eines Flusses im Sonnenlicht glitzern. Wenn es sein musste, sagte sie sich, lief sie von Sumpf zu Sumpf, von Fluss zu Fluss durch die Wälder des Vorgebirges. Nur langsam musste es sein, denn mehr als Schlurfen konnte sie kaum noch.
Endlich erreichte sie den Fuß des Hügels. Ihre Füße fühlten sich wie Holzklötze an. Ab hier begann das Terrain wieder anzusteigen, und sie kroch nur noch vorwärts. Alles tat weh. Über ihr raschelte etwas. Wind oder Munaqsri? Eichhörnchen oder Spion? Mit klopfendem Herzen suchte sie die Bäume ab. Nichts zu sehen.
Cassie sank gegen den Stamm einer Fichte. »Ich hasse das«, sagte sie laut zu dem Baum. »Nur, damit du es weißt: Ich hasse das.« Wieder beugte sie sich schwerfällig über ihren dicken Bauch, um ihre Füße zu begutachten. Die waren jetzt über und über mit Blasen bedeckt und brannten wie Feuer. Cassie zupfte Nadeln und Schmutz von den Stellen, wo sich die Blasen geöffnet hatten und das rohe Fleisch zum Vorschein kam. Weiter konnte sie nichts tun, lediglich hoffen, dass das Ganze sich nicht zu einem Wundbrand ausweitete. Ihre Bauchdecke schlug Wellen, als sich das Baby krümmte und wand wie ein Küken, das aus seiner Schale will. Es mochte anscheinend das Bücken nicht. »Nur noch ein kleines Weilchen«, sagte Cassie, als sie sich wieder aufrichtete. »Wir schaffen das.«
Humpelnd und nur durch pure Willenskraft schaffte sie eine weitere Meile, bevor es zu regnen begann. Sie kraxelte gerade den nächsten Hügel hinauf, da hörte sie die Tropfen, noch bevor sie sie spürte. Immer schneller trommelten sie auf das dichte Dach aus Fichtenzweigen. Pappeln begannen zu zittern. Dann brach der Regen durch. Cassie hob ihr Gesicht, und Wasser pladderte auf sie nieder. Getrockneter Schlamm löste sich von ihrer Haut und rann in braunen Bächen den Hals hinunter. Sie fing die Regentropfen mit der Hand und dem weit geöffneten Mund auf und trank, soviel sie konnte. Regen ergoss sich in Strömen auf den Waldboden. Der Nadelteppich unter ihren Füßen wurde glatt wie Schmierseife. So schnell sie konnte, flüchtete Cassie in den Schutz einer umgestürzten Fichte. Dort kauerte sie sich zusammen, während der Wolkenbruch den Wald einweichte.
Ein kaltes Bächlein rann ununterbrochen ihren Rücken hinunter, und Cassie fröstelte. Sie presste sich fest gegen die kühle Rinde und stellte sich vor, dass das Kind in ihr ebenfalls fror. Ob sie ihm wohl schadete, während sie hier draußen unterwegs war? Und als Nächstes fragte sie sich, seit wann sie sich eigentlich Sorgen um das Baby machte. Sie konnte sich an keinen genauen Zeitpunkt erinnern. Irgendwie war es Stück für Stück gekommen, mit jedem Tritt, jedem Schluckauf, jeder Bewegung, die sie in sich spürte.
Cassie rollte sich zu einer Kugel zusammen, legte den Kopf auf eine Wurzel und schlang die Arme um ihren Leib, als könnte sie so das Baby besser schützen. Wasser sammelte sich unter ihr. Nasses Haar lag kalt auf ihrem Nacken. Sie fiel in einen unruhigen Schlaf und träumte von Bär. Und von Gram. Und von einem Kind mit riesengroßen Augen und aufgeblähtem Bauch. Es starrte sie stumm an, so lange, bis Cassie mit einem Schlag aufwachte.
Sie war heiß und zitterte am ganzen Körper. Mühsam setzte sie sich auf. Wasser tropfte auf sie herab. Außerhalb ihres provisorischen Unterschlupfs nieselte es. Cassie krabbelte hinaus und kam taumelnd auf die Füße.
Alles drehte
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