Ice - Hüter des Nordens - Durst, S: Ice - Hüter des Nordens
Stunden später wachte sie auf und stellte fest, dass sie zehn Zentimeter tief eingesunken war.
Mit Hilfe ihres Gehstocks zog sie sich aus dem Morast. Der Schlamm juckte auf der Haut, und ihre Haare waren völlig verklebt. Als sie den Rücken durchstreckte, glitt moosiger Matsch von ihren Schultern.
Cassie betrachtete die modrigen Tümpel etwas genauer. Weißt du eigentlich, wie viele Bakterien in diesem Wasser leben?, hörte sie ihren Vater fragen. Was kann denn ein kleines Schlückchen schon schaden?, widersprach sie ihm in Gedanken. Ihre Zunge war dick angeschwollen, und wenn sie schluckte, schmerzte ihre Kehle. Ein verdorbener Magen war immer noch besser als Austrocknen. Flüssigkeitsmangel würde sie schneller töten.
Cassie ging in die Knie und fuhr mit der Hand durch eine der leicht bräunlich gefärbten Pfützen. Wasserkäfer stoben auseinander. In den kleinen Wellen, die sie erzeugten, tanzten Algen.
Sie versuchte sich vorzustellen, es wäre Eistee – Farbe und Konsistenz waren sehr ähnlich. Sie schöpfte ein bisschen in ihre Hand und nahm einen Schluck. Die Flüssigkeit lief ihr Kinn hinunter. »Oh! Ääah!«, entfuhr es ihr. Das Zeug schmeckte widerlich, wie ungeklärtes Abwasser. Cassie hatte zwar noch nie welches probiert, aber genauso stellte sie es sich vor. Sie wischte sich mit einem schlammigen Ärmel über den Mund. Ihr Baby brauchte das Wasser.
Gegen Mittag trank sie ein zweites Mal davon und dann noch einmal am Abend. Bald dachte sie nur noch an Wasser und hatte Schwierigkeiten, sich auf irgendetwas anderes zu konzentrieren. Stock einstechen, Schritt vorwärts, Stock einstechen, Schritt vorwärts, Stock einstechen, Schritt vorwärts, wiederholte sie gebetsmühlenartig in Gedanken.
Als die Sonne zum zweiten Mal über dem Sumpf unterging, fand sie eine Stelle mit Moltebeeren. Sie sank im Schlamm neben einem der Büsche auf die Knie, riss die fetten gelben Früchte von den Zweigen und stopfte sie händeweise in den Mund. Die prallen Beeren explodierten auf ihrer Zunge wie kleine Feuerwerkskörper. Der Saft, scharf wie Schnaps, rann brennend ihre Kehle hinunter. Alles schmeckte nach Schlamm, aber das kümmerte sie nicht. Sie aß weiter, bis die Sträucher völlig kahl waren. Dann schlief sie neben ihnen ein.
Kurz vor Morgengrauen wachte sie auf, weil ihre Füße kribbelten. Im Halbschlaf langte sie über ihren gewölbten Bauch, um sie zu massieren. Sie fühlten sich feuchtkalt an, und unter der Schlammschicht war die Haut ganz rot. Cassie musste bald trockenes Land finden.
Noch einmal suchte sie die Sträucher nach Beeren ab, fand aber nur ganze drei. Offensichtlich war sie am Abend zuvor überaus gründlich gewesen. Außerdem hatte sie Magenschmerzen. Sie packte ihren provisorischen Wanderstock und schleppte sich weiter.
Eine Wand aus Fichten tauchte vor Cassie auf. Schlank und kerzengerade ragten die Bäume empor. Schwer auf ihren Stock gestützt, stolperte sie auf tauben Füßen in diese Richtung. Erst sank ihr Gehstock fünfzehn Zentimeter ein, dann zehn, dann fünf. Weiche Fichtennadeln lösten den Teppich aus Torfmoos ab. Farne und Bärlapp verdrängten Orchideen. Fünf Schritte von der nächsten Weißfichte entfernt hielt sie zweifelnd inne. Schlamm tropfte überall von ihrer Kleidung und bedeckte den Boden mit unregelmäßigen Flecken. Zwischen den Bäumen konnten sich unzählige Spione verbergen. Es war sogar möglich, dass Großvater Wald höchstpersönlich hier auf sie wartete.
Ach was, sagte sie sich. Er würde sie gar nicht erkennen, so schlammverkrustet, wie sie war. Und selbst wenn, würde ihn der Gestank, den sie verströmte, glatt umhauen. Ganz langsam und unter großen Schmerzen begann sie einen Hügel hinaufzuklettern, raus aus dem Sumpf. Fichtennadeln knirschten leise unter ihrem Tritt, blieben an ihren Fußsohlen hängen.
Oben angelangt, ließ sich Cassie erschöpft auf einen umgestürzten Baumstamm sinken. Dunkles Fichtengrün, durchbrochen von buntem Herbstlaub, erstreckte sich über Meilen und Abermeilen, bedeckte das ganze Vorgebirge. Den Horizont säumten hohe Berge, deren Silhouette sich scharf gegen die Sonne abzeichnete. Wunderschön, wie sie dort honiggolden leuchteten, hier und da gesprenkelt von weißen Schneefeldern. Es fiel ihr trotzdem schwer, diesen herrlichen Anblick zu genießen, denn ihr Körper war nur noch ein einziger Schmerz.
Cassie nahm einige Farnwedel, bückte sich schwerfällig über ihren dicken Bauch und begann sich den Schlamm von den
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