Ice - Hüter des Nordens - Durst, S: Ice - Hüter des Nordens
sich – sie war zu schnell aufgestanden. Sie schloss die Augen und legte eine Hand auf die Stirn – heiß. Sie hatte Fieber. Früher hatte sich dann immer Gram um sie gekümmert.
Sie öffnete die Augen und hielt nach ihrer Großmutter Ausschau.
»Gram, ich fühl mich nicht gut.« Unbeholfen stolperte sie vorwärts. Die Worte waren ein unverständliches Gebrabbel. Ihre Ohren dröhnten, und ihr Blick verschwamm. Ihr war, als wäre sie unter Wasser. »Gram?«
Gram war ein weißer Bär. Dann wurde sie zu einem hungernden Kind mit Augen so groß wie Großvater Walds Teetassen. Cassie streckte die Arme nach ihm aus.
Das Bär-Kind lief weg.
Cassie rannte hinter ihm her. Ihr Kopf dröhnte, und ihre Füße pochten vor Schmerz. Sie sah, wie sich feine weiße Linien über den Wald legten. Ein dunkler Blitz zuckte vorbei.
Cassie presste die Hände gegen die Stirn. Sie wollte das Pulsieren in ihrem Kopf überholen. Schneller und schneller rannte sie, raste wie blind durch die Bäume.
Sie sah den Abhang nicht.
Sie sah die Felsen nicht.
Sie fiel. Gegen scharfe Steine prallend, sich mehrfach überschlagend, stürzte sie den Steilhang hinunter. Stechender Schmerz durchbohrte sie wie eine Lanze. Schreiend rollte sie weiter.
Am Fuß des Hügels schlug sie hart auf und blieb reglos liegen. Neben ihr gurgelte ein Fluss. Ihre Hand hing schlaff im Wasser. Nass, dachte sie noch. Dann verlor sie das Bewusstsein.
Fiebrige Träume hüllten sie ein: Blut und Hitze und schneidende Kälte. Als die Träume verschwanden und das Fieber nachließ, weckten die Schmerzen sie auf. Sie lag verdreht auf mehreren Steinen. Ihre Haut war eine einzige Wunde. In ihren Ohren rauschte es. Ihr war schwindlig. Ihr Magen … Sie krümmte sich und schnappte nach Luft. Ihre Eingeweide krampften sich zusammen.
Oh, was hab ich nur getan! Bitte, bitte, sei nicht tot!
Cassie versuchte sich aufzusetzen. Sie bekam nicht genug Luft. Bitte, lebe! Lebe, verdammt noch mal!
Als sie sich bewegte, spülte eine schwarze Woge über ihre Augen, und sie musste sich übergeben. Bei jedem Würgen fuhr ein scharfer Schmerz durch ihren Körper wie ein Messer. Mühsam hob sie ihre zitternde Hand an den Mund. Und dann sah sie das Blut. Sie spreizte die Finger. Leuchtendes, scharlachrotes Blut. Sonst nichts. Ihre ganze Welt versank in Blut.
Sie erbrach Blut.
Cassie schloss die Augen. Immer noch alles rot. Sie erbebte. Ihr war klar, was das bedeutete. Sie war verletzt und mutterseelenallein. Sie hatte nicht nur ihr Kind getötet, sondern auch sich selbst.
Dritter Teil
Auf dem Rücken des Nordwinds
Kapitel Siebenundzwanzig
Geografische Breite: 63° 48 ' 11 " N
Geografische Länge: 126° 02 ' 38 " W
Höhe: 337,7 m
Cassie ertrank. Sie hielt ihren Hals umklammert, ein gestrandeter Fisch, der an der Luft erstickte. Ein Schatten fiel über sie. Mühsam richtete sie ihren Blick darauf.
Der Schatten sah aus wie ein junger Inuit-Mann.
Doch das ergab überhaupt keinen Sinn. Sie war allein, lag einsam im Sterben. Nur sie. Und ihr ungeborenes Kind, ihr Baby, das nun niemals das Licht der Welt erblicken würde. »Es tut mir leid, leid, leid«, wisperte sie tonlos und presste die Augen zusammen.
Als sie sie wieder öffnete, war der Mann immer noch da. Stumm und reglos stand er auf den Felsen über ihr und wartete. Und plötzlich verstand sie: Er wartete darauf, dass sie starb. »Munaqsri«, kam es rasselnd aus ihrem Mund.
Er fuhr zusammen, verlor auf dem glatten Stein den Halt und schlitterte einige Meter nach unten, bevor er sich wieder gefangen hatte. Kiesel rollten weg und trafen Cassie, die schmerzhaft zusammenzuckte.
»Du kannst mich sehen? Ich dachte, du wärst … «, begann er. »Du weißt, was ich bin?«
Ja, sie wusste es. Er war der Menschen-Munaqsri. Er war hier, um ihre Seele mitzunehmen. Nun, das würde sie ihm nicht gestatten. Er war ein Munaqsri – er konnte Moleküle manipulieren. Er konnte sie retten! »Mach mich gesund!«, verlangte sie hustend. Blut spritzte auf sein Hosenbein.
Die Stirn gerunzelt, betrachtete der Mann zuerst die roten Punkte und dann Cassie. »Wenn du weißt, was ich bin, dann weißt du auch, dass ich nicht hier bin, um dich gesund zu machen.«
Mit schwacher Hand tätschelte sie sein Fußgelenk. »Du kannst es«, beharrte sie. Er hatte die Macht dazu. »Tu es!«
»Es tut mir leid, aber du liegst im Sterben«, widersprach er sanft.
»… sterbe … nicht.« Nicht, wenn er sie retten konnte. Sie versuchte mit allerletzter Kraft, ihn
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