Ice - Hüter des Nordens - Durst, S: Ice - Hüter des Nordens
noch einmal zu berühren, und spuckte wieder Blut.
Er beugte sich über sie und legte eine Hand an ihren Hals, fühlte ihren Puls. »Du hast einen außerordentlich starken Willen.« Er nahm seine Hand weg. »Du musst loslassen. Dein Körper ist zu stark beschädigt, um sich selbst zu heilen. Du musst fürchterliche Schmerzen haben.« Er klang beinahe gütig. »Ich muss jetzt deine Seele an mich nehmen.«
Für den Bruchteil einer Sekunde schloss Cassie die Augen und öffnete sie wieder. Dann konzentrierte sie sich auf seine Worte, als wären sie Seifenblasen, die sie fangen sollte. Ihr Blick verschwamm. »Die kannst du nicht haben.«
»Na, na. Wir wollen doch nicht, dass es sie hinter das Ende der Welt verschlägt.«
Cassie dachte an die Eisbären, daran, wie ihre herrenlosen Seelen bis hinters Ende der Welt drifteten, es sei denn – ihr fiel ein, was der Hase und die Eule gesagt hatten –, es sei denn, jemand anders nahm sich ihrer an.
Konnte sie den Menschen-Munaqsri in Versuchung führen? »… weiß, wo fünfundzwanzigtausend sind.«
Er hockte sich neben sie. »Was hast du da gesagt?«
»Fünfundzwanzigtausend herrenlose Seelen«, sagte sie etwas deutlicher und schnappte vor Anstrengung nach Luft. Sie würgte und hustete und begann zu zittern.
Er packte sie bei den Schultern und hielt sie ruhig. »Herrenlos? Hast du gesagt ›herrenlos‹? So wie ›ohne Munaqsri‹?« Die Aufregung war ihm deutlich anzumerken.
Cassie schloss die Augen. »Kann nicht sprechen«, wisperte sie. »Sterbe.« Bitte, lass es funktionieren!
»Fünfundzwanzigtausend Seelen.« Er schrie es fast. »Du sagtest fünfundzwanzigtausend! Wo? Wer?«
Sie holte Luft, als wollte sie etwas sagen – doch dann erbebte sie am ganzen Körper, und diesmal war es nicht gespielt. Heile mich!, bettelte sie stumm.
Sie hörte ihn fluchen, und gleich darauf schoss ein fürchterlicher Schmerz durch ihren Körper. Der Munaqsri drückte fest auf ihren Brustkorb. Ihr Oberkörper wurde zusammengepresst, Rippen knackten. Es war, als würde das Himmelszelt einstürzen und die Erde nach oben gerissen. Sie schrie. Und dann war der Schmerz plötzlich weg. Cassie verstummte vor Überraschung mitten im Schrei. Dann setzte sie sich auf den blutgetränkten Steinen aufrecht hin. Sie fühlte sich so leicht wie ein Luftballon. Als sie versuchte, normal zu atmen, weiteten sich ihre Rippen und zogen sich wieder zusammen, ganz gleichmäßig. Sie stupste sie an. Es war, als wäre sie nie verletzt gewesen. Cassie betrachtete sich genauer. Sie war immer noch blutüberströmt, aber anscheinend gesund. Sie fuhr mit den Händen über ihren Bauch. »Ist mein Baby …«
»Natürlich«, fiel er ihr ins Wort. Er klang beinahe beleidigt. »Ich bin schließlich vom Fach.«
Eine Woge der Erleichterung spülte über Cassie hinweg, deren Intensität sie schockierte. Tränen schossen ihr in die Augen, und sie begann eingehend ihre Haut zu untersuchen, damit er es nicht bemerkte. Feine dunkelrosa Linien verliefen dort, wo die Steine sich in sie hineingebohrt hatten. Sie pulte getrocknetes Blut ab. »Beeindruckend«, sagte sie und versuchte, gelassen zu klingen. »Ich danke dir.«
»Es ist uns eigentlich nicht gestattet, Ausnahmen zu machen«, meinte der Menschen-Munaqsri, »aber für fünfundzwanzigtausend … Bei so vielen Seelen hätte ich niemals mehr eine Totgeburt.« In seiner Stimme klang Verwunderung mit.
Zum ersten Mal sah sie zu ihm hoch, ohne dass der Schleier des Schmerzes ihre Augen trübte. Der Munaqsri war ein magerer Inuit mit einem dünnen, flaumigen Oberlippenbärtchen. Er wirkte sehr jung – vielleicht so alt wie Jeremy – , doch das hatte bei einem Munaqsri überhaupt nichts zu bedeuten. Durch sein kurz geschorenes Haar schimmerte die Kopfhaut. Die Haare hätte er mal lieber auf seine Oberlippe transplantieren sollen, dachte sie spöttisch. Mit seinem spärlichen Bartwuchs (plus Kakihose, Hemd und Schlips) sah ihr Retter eher aus wie ein Jugendlicher bei seinem ersten Vorstellungsgespräch als ein Seelenhüter der Menschen.
»Die Seelen«, ermunterte er Cassie. »Wo sind sie?«
Vermutlich war er ganz neu in seinem Amt als Munaqsri. Das würde erklären, warum er sich verschätzt und damit zugelassen hatte, dass sie ihn sah. Ihr fielen die Geschichten von Menschen ein, die kurz vor ihrem Tod angeblich einen Engel gesehen hatten. Vielleicht sahen ja mehr Menschen ihren Munaqsri als bekannt. »Ich kann nicht versprechen, dass niemals jemand Anspruch auf diese
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