Ice Ship - Tödliche Fracht
Obwohl er todmüde war, konnte er nicht schlafen. Zu viel war an diesem Tag geschehen: die aufregenden Entdeckungen, die jeder physikalischen Lehre widersprachen, der Tod von Rochefort und Evans und schließlich das erneute Auftauchen des Zerstörers. Seit er die Hoffnung auf Schlaf endgültig aufgegeben hatte, war er ruhelos von Deck zu Deck gewandert. Schließlich hatten seine Füße – wie von selbst – den Weg hierher gefunden. Aber als er nun an der Tür zu Amiras Kabine stand, musste er sich überrascht eingestehen, dass er insgeheim ihre Nähe suchte. Vielleicht aus der Ahnung heraus, dass ihr zynisches Lachen genau das Aufputschmittel war, das er jetzt brauchte. In ihrer Gegenwart blieben ihm zumindest das laienhafte Geschwätz und die ermüdenden Erklärungen der anderen erspart. Wer weiß, vielleicht hatte sie ja Lust auf einen Kaffee im Kasino oder eine Runde Billard. Er klopfte. »Rachel?« Keine Antwort. Ob sie schlief? Bestimmt nicht. Sie hatte ihm schließlich selbst erzählt, dass sie in den letzten zehn Jahren nie vor drei Uhr nachts zu Bett gegangen sei. Er versuchte es noch einmal. Und war verblüfft, als sich die Tür wie von Geisterhand öffnete. Wahrscheinlich hatte sie sie nicht fest genug zugezogen. »Rachel? Ich bin’s, Sam.« Von Neugier getrieben, trat er zögernd ein. Er war noch nie in ihrer Kabine gewesen. Anstatt eines ungemachten Betts, mit dem er gerechnet hatte, verstreuter Zigarrenasche und nicht aufgeräumter Kleidungsstücke erwartete ihn eine geradezu mustergültige Ordnung. Einen Augenblick fragte er sich, ob sie die Kabine überhaupt bewohnte. Bis er die Erdnussschalen unter dem Computertisch entdeckte. Er konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. Doch das verkümmerte rasch, als sein Blick zufällig auf den Bildschirm fiel und an seinem Namen hängen blieb. Im Drucker lagen zwei ausgedruckte Seiten. Er fischte die obere heraus und begann zu lesen.
EES VERTRAULICH
Von: R. Amira
An: E. Glinn
Betrifft: S. McFarlane
Seit dem letzten Bericht haben der Meteorit und die durch die Testergebnisse aufgeworfenen Fragen den Beobachteten immer mehr in ihren Bann gezogen. Er hat weiterhin Vorbehalte gegenüber dem Projekt, ebenso gegenüber Lloyd selbst. Trotz dieser Ambivalenz scheinen die Probleme, vor die der Meteorit uns stellt, eine zunehmende Faszination auf ihn auszuüben. Es gibt kaum noch ein anderes Gesprächsthema zwischen uns, zumindest seit den Ereignissen des heutigen Vormittags. Ich bin nicht sicher, ob er mir rückhaltlos alles sagt, was ihn innerlich bewegt, muss aber bekennen, dass mich die Aufgabe, ihn auszuhorchen, zunehmend bedrückt. Kurz nachdem der Meteorit freigelegt worden war, habe ich ein Gespräch auf seine frühere Theorie über interstellare Meteoriten gelenkt. Er wollte sich anfänglich bedeckt halten, hat sich jedoch immer mehr in Eifer geredet und mir dargelegt, dass und warum die Theorie durch diesen Meteoriten und seine Beschaffenheit auf verblüffende Weise bestätigt wird. Er wollte jedoch, dass das unter uns bleibt, und hat mich ausdrücklich gebeten, anderen gegenüber nichts von seinen Vermutungen verlauten zu lassen. Wie Sie sicher bei der Diskussion heute Vormittag selbst bemerkt haben, sieht er sich in seiner Überzeugung, dass wir es mit einem Meteoriten interstellarer Herkunft zu tun haben, inzwischen weiter bestärkt.
Eine Tür schlug, McFarlane hörte tiefe Atemzüge, er drehte sich um. Amira war zurückgekommen, anscheinend vom Abendessen. Sie trug ein knielanges Kleid, hatte sich aber für den Rückweg vom Speisesaal den Parka über die Schultern gehängt. Sie stand mit dem Rücken zu ihm an der Tür, hatte ihn also noch nicht bemerkt. Dann wandte sie sich um. Ein paar Sekunden lang starrten sie sich nur stumm an. McFarlane fühlte sich wie betäubt. Es war, als hätten all die Schocks, die er heute durchlebt und durchlitten hatte, in ihm keinen Platz mehr für irgendwelche Emotionen gelassen. »Nun«, brachte er schließlich heraus, »ich scheine nicht der einzige Judas auf diesem Schiff zu sein.« Amira war kreidebleich geworden, hielt aber seinem Blick Stand. »Dringen Sie immer in fremde Räume ein und lesen die Privatpost anderer Leute?«, konterte sie. McFarlane lächelte kühl und legte den Ausdruck auf den Computertisch. »Tut mir Leid, aber dafür bekommen Sie ein Ungenügend. Es heißt Ambivalenz, nicht velenz. Ich fürchte, da wird Eli hinter Ihrem Namen heute kein Sternchen ins Personalbuch eintragen.« Er ging auf
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