Ice Ship - Tödliche Fracht
geschrieben. Und dann tat Rocco etwas, was in dieser Situation geradezu skurril wirkte: Er fasste einen Zipfel seines T-Shirts und wischte damit behutsam den Augapfel ab. »Das ist gar nicht Hill«, sagte er sehr leise. »Dieses Auge ist blau.«
Isla Desolación
12.40 Uhr
Glinn strahlte eine erstaunliche Ruhe aus. »Mr. Garza, stellen Sie einen Trupp zusammen und suchen Sie Hill. Benutzen Sie Schneesonden und Wärmesensoren. Aber halten Sie die Augen nach Scharfschützen und versteckten Sprengfallen offen. Sie müssen auf alles gefasst sein.« Garza verließ die Sanitätsbaracke. Glinn ließ sich von Rocco das zerschmetterte Auge geben, hielt es ins Licht und drehte es hin und her. Dann ging er zu dem Tisch, an dem Rocco gerade arbeitete, und nahm die Leichenteile in Augenschein. »Mal sehen, was wir da haben«, murmelte er, hob ein Teil nach dem anderen hoch, um es von allen Seiten zu betrachten. McFarlane musste unwillkürlich an wählerische Hausfrauen an der Fleischtheke denken. Glinn fischte einen Fetzen Kopfhaut heraus, an dem ein dürftiges Haar hing. »Blond«, stellte er fest und konzentrierte die weitere Suche auf Teile des Kopfes. »Hohe Wangenknochen ... kurz geschorenes Haar ... nordische Züge ... noch ziemlich jung, etwa fünfundzwanzig ...« Dann fiel sein Blick auf den rechten Arm des Toten. »Eine Totenkopf-Tätowierung ...« Eine Viertelstunde verging, alle verfolgten die Prozedur stumm. Als Glinn fertig war und sich die Hände gewaschen hatte, ging er mit großen Schritten in der Baracke auf und ab. Schließlich griff er nach einem Funkgerät. »Thompson?« »Ja, Sir?«, meldete sich Thompson von der Anlegestelle. »Wie steht’s mit dem Generator?« »Britton will ihn selbst rüberbringen, sie will die Crew keinem Risiko aussetzen. Sie sagt, Brambell käme nach, sobald der Sturm abgeflaut ist. Nach der aktuellen Seewettermeldung ist in Kürze damit zu rechnen.« Ein Piepton zeigte an, dass Glinn auf der anderen Frequenz verlangt wurde. Er schaltete um. Es war Garza, er klang bedrückt. »Wir haben Hill gefunden. In einer Schneeverwehung, mit durchgeschnittener Kehle. Sieht nach einem Profikiller aus. Und noch etwas: In der Hütte, nicht weit vom Einstieg in den Tunnel, haben wir ein Paar Schneeschuhe entdeckt. Gehören nicht zu unserer Ausrüstung, genau wie der Handschuh.« »Danke, Mr. Garza. Lassen Sie Hills Leichnam bitte in die Sanitätsbaracke bringen. Ich möchte nicht, dass sie in der Kälte erstarrt, das würde Dr. Brambells Untersuchungen nur unnötig erschweren.« Er legte das Funkgerät weg, drehte sich um und murmelte etwas auf Spanisch – sehr leise, aber McFarlane bekam es trotzdem mit: »Kein kluger Schachzug, mi Comandante. Wirklich nicht.«
lsla Desolación
23. Juli, 0.05 Uhr
Der Sturm legte sich, achtundvierzig Stunden vergingen ohne neuerliche Zwischenfälle. Rings um das Operationsgebiet waren die Sicherheitsmaßnahmen erheblich verstärkt, die Wachen verdreifacht, zusätzliche Kameras installiert und ein Netz von Bewegungsmeldern aufgebaut worden. Gleichzeitig hatte Glinn die Arbeiten an dem unterirdischen Transportweg bis an die Grenzen der Belastbarkeit für Mensch und Material forcieren lassen. Kaum war ein Abschnitt fertig gestellt, rückte der Tieflader mit dem Meteoriten nach, und weiter hinten wurde der Schacht wieder zugeschüttet. Inzwischen hatte die Ausschachtung die fast siebzig Meter dicke Eisschicht im Zentrum des Schneefelds erreicht. Tag und Nacht arbeiteten zwei Teams an dem Schacht: eines Richtung Küste, das andere in Gegenrichtung, von der Küste auf den Meteoriten zu. Aus dem Schacht ragten gewaltige Schläuche wie Dinosaurierrüssel nach oben, die unablässig Ruß und Dieselqualm in die Luft spuckten – ein ausgeklügeltes Entlüftungssystem, ohne das der Einsatz schweren Geräts zu einem Gesundheitsrisiko für die Arbeiter geworden wäre. Glinn stand in dem Eisschacht und verfolgte den Fortgang der Ausschachtung. Bis jetzt hatten sie trotz der beiden letzten Todesfälle den Zeitplan einhalten können. Der Graben, den sie durch das Eis brachen, war eines der vielen technischen Wunder, die sie seit Beginn der Arbeiten an diesem Projekt vollbracht hatten. Die Wände des Schachts waren mit einer Maserung aus blendend weißen, skurril geformten Kristallen überzogen. Im Licht der Neonröhren und vor dem Hintergrund des unglaublich tiefen Blaus der geschlossenen Eisschicht erinnerte das Bild an ein eigenwilliges, die Sinne verwirrendes
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