Ice Ship - Tödliche Fracht
Augenbrauen hoch. Die Anzahl der perimortalen Brüche war ungewöhnlich, sogar äußerst ungewöhnlich. Und plötzlich hielt er – ein winziges Knochenstück zwischen zwei Fingern – wie erstarrt mitten in der Bewegung inne. Schließlich legte er das Knochenstück behutsam auf der Liege ab, trat einen Schritt zurück, verschränkte die Arme vor dem Bauch und starrte auf die sterblichen Überreste, die von diesem Menschen aus Fleisch und Blut geblieben waren. Seit seinen Kindertagen in Dublin hatte seine Mutter davon geträumt, dass die Zwillinge eines Tages Ärzte würden. Und weil Ma Brambell die unwiderstehliche Überzeugungskraft einer Naturgewalt eigen war, hatten er und sein Bruder Simon tatsächlich Medizin studiert. Simon, der Fleißigere, fand zu Mas Entzücken auf Anhieb eine Anstellung als ärztlicher Leichenbeschauer in New York. Patrick nahm das Studium weniger ernst und verbummelte viel Zeit, weil er sich mehr zur schönen Literatur als zu den Lehrbüchern hingezogen fühlte. Später, nach der Approbation, entdeckte er seine Liebe für Schiffe, insbesondere für große Tanker mit einer kleinen Besatzung und komfortabler Unterbringung. Die Rolvaag hatte seine Erwartungen bisher in jeder Hinsicht erfüllt. Keine gebrochenen Nasen, keine Fieberepidemien, kein Tripper. Von ein paar Patienten, die an Seekrankheit litten, einer Sinusitis und dem Überwachungsauftrag, den Glinn ihm wegen dieses Meteoritenjägers erteilt hatte, einmal abgesehen, hatte er sich ganz der Lektüre seiner geliebten Bücher widmen können. Bis jetzt. Nun aber rührte sich angesichts der vor ihm ausgebreiteten Knochen eine nie gekannte Neugier in ihm. Fröhlich vor sich hin pfeifend, machte er sich zunächst an eine Begutachtung der Effekten: Knöpfe, Kleidungsreste, ein alter Stiefel. Typisch – nur einer, nach dem anderen hatte das Bergungsteam wohl nicht sorgfältig genug gesucht. Dieselbe Schlamperei wie bei dem rechten Schlüsselbein, einem Teil des Darmbeins, der linken Unterarmspeiche, einigen Handwurzelknochen und Karpalgelenken. Im Geist stellte Brambell bereits eine Liste der fehlenden Knochen zusammen. Wenigstens war der Schädel da, wenn auch in mehreren Teilstücken. Er beugte sich tiefer herab. Auch der Schädel war von einem Netz perimortaler Brüche überzogen. Das Joch über der Augenhöhle war kräftig ausgebildet, ebenso wie die Mandibula – eindeutig der Schädel eines männlichen Toten, den Verwachsungslinien der Knochen nach etwa fünfunddreißig, höchstens vierzig. Relativ klein, etwa eins siebzig, aber kräftig gebaut, den Anheftungsstellen nach mit gut entwickelten Muskeln. Kein Zweifel, der Mann hatte viele Jahre mit körperlicher Arbeit im Freien verbracht. Was genau dem Profil des Geologen Nestor Masangkay entsprach, das er aus Glinns Unterlagen kannte. Viele seiner Zähne waren an den Wurzeln abgebrochen. Der arme Kerl war offensichtlich im Augenblick seines Todes einer gewaltigen Erschütterung ausgesetzt gewesen. So gewaltig, dass sie ihm sogar den Kiefer gebrochen hatte. Immer noch die fröhliche Melodie auf den Lippen, widmete er sich dem postkranialen Skelett. Es war wahrhaftig jeder Knochen gebrochen, der nur brechen kann. Er fragte sich, was wohl zu einem so massiven Trauma geführt haben mochte. Der Tote musste einen heftigen Schlag von vorn erhalten haben, und zwar von den Zehen bis zur Korona. Brambell wurde an den armen Fallschirmspringer erinnert, den er während seines Studiums autopsiert hatte. Der Mann hatte seinen Schirm falsch gepackt und war aus knapp über tausend Meter Höhe abgestürzt, mitten auf die Interstate 95. Und auf einmal verkümmerte das Lied auf seinen Lippen. Sein Atem stockte. Da hatte er sich doch tatsächlich so auf die Knochenfrakturen konzentriert, dass ihm die anderen Verletzungsspuren glatt entgangen waren. Als er nun das Versäumte nachholte, sah er sofort, dass die proximalen Finger- und Zehenglieder die flockigen, verschrumpelten Charakteristika einer schweren Verbrennung aufwiesen. Nahezu alle distalen Phalangen fehlten, die Hitze hatte sie weggebrannt. An den Zehen und an den Fingern. Er sah sich die abgebrochenen Zähne genauer an. Wie abgefackelt, sogar der Zahnschmelz war abgesplittert.
Sein Blick kreiste über den Knochen. Schwere Verbrennungen am Scheitelbein, die Knochenstruktur war weich und verschmort. Er beugte sich weiter über die Liege hinunter. Ja, er konnte es sogar riechen. Und was war das? Er fischte die Gürtelschnalle aus den Knochen
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