Ich beschütze dich
hebe sie hoch und setze sie in den Rollstuhl. Ein paar Stunden kann sie da sitzen bleiben.
Ich hebe den verräterischen Button auf und bringe ihn ins Musikzimmer. In dem schwachen Licht, das durch die Oberlichter sickert, finde ich den Kapuzenpulli am Fußende von Jez’ Bett und befestige den Anstecker daran. Jez schläft immer noch, er ist fiebrig und verströmt einen schwachen, knabenhaften Duft, den ich in meine Lungen sauge, um Helens Geruch zu vertreiben. Ich hebe eine Strähne von seinem dunklen Haar hoch und reibe mit der Nase über den feinen Flaum hinter seinem Ohr, streiche mit einem Finger sanft über die blaue Ader an seinem Arm bis hinunter zur Handfläche, die nach oben gekehrt ist, als wollte er mir etwas Kostbares zeigen. Küsse die weiche Pfirsichhaut auf seinen Fingerkuppen. Ich lasse den Blick über seinen ganzen Körper gleiten. Schaudere vor Vorfreude auf den Genuss, wieder mit ihm allein zu sein.
Unten ziehe ich ein paar Gummihandschuhe aus dem Wust im Spülschrank und lege sie auf dem Tisch für die Flut bereit. Die rosafarbenen, aufgeblähten Finger wirken monströs im Vergleich zu Jez’ schlanken, goldenen. Die nächste Stunde zieht sich unendlich. Ich versuche, die Küche aufzuräumen, aber sie ist so gut wie sauber. Ich stelle die leeren Weinflaschen in die Recyclingtonne und spüle Helens Glas unter dem Wasserhahn, dreimal schrubbe ich es mit der Bürste ab, bevor ich es in die Spülmaschine stelle. Immer wieder stecke ich den Kopf durch die Wohnzimmertür, um nachzusehen, ob sie nicht doch wieder atmet. Ich habe den Drang, ihr eine Decke überzulegen, dabei spürt sie die Kälte nicht mehr. Es gefällt mir nicht, dass sie so zusammengesunken in ihrem Minirock und Schal in Orange, der blickdichten, kirschroten Strumpfhose und dazu passendem Rundhalspulli in dem Durchzug sitzt, der durch den Kamin fegt. Alles ist so hübsch aufeinander abgestimmt. An einem Bein hat die Strumpfhose am Knie leichte Falten geworfen, wahrscheinlich durch unseren Kampf auf dem Sofa, und ich will sie hochziehen und glätten. Es gefällt mir wirklich gar nicht, sie so zu sehen, aber ich hatte keine andere Wahl. Was hätte ich denn sonst machen sollen?
Ich suche die Decke, in die ich Jez heute Nachmittag gewickelt habe, die grün-weiß karierte, und lege sie ihr über. Wieder schlägt die Uhr.
Ich kehre in die Küche zurück. Setze mich, stütze den Kopf in die Hände. Sehe wieder nach ihr. Merke, dass ich dieses Mal hoffe, sie würde wieder atmen. Ich halte eine Hand unter ihren Mund, unter die Nase, hebe das Handgelenk an und taste nach einem Puls.
Nichts.
Das Telefon klingelt. Es ist zwei Uhr morgens. Um zwei Uhr ruft doch niemand an. Erst will ich abnehmen, dann halte ich mich zurück. Der Anrufbeantworter springt an. Ich höre Micks Stimme.
»Sonia. Tut mir leid, dass ich um diese Zeit störe, aber Helen ist abgehauen. Ich dachte, sie wäre vielleicht bei dir. Ruf mich doch bitte morgen früh an … ich mache mir Sorgen um sie.«
Warum glauben die Leute, alle wären bei mir? Wenn sie vermuten, dass sie bei mir ist, wann kommen sie her und schnüffeln herum? Ich muss Helen loswerden.
Ich gehe zur Tür in der Mauer und bleibe stehen. Auf dem Fußweg nähern sich Stimmen. Ausländische Akzente. Polnisch oder russisch. Studenten, die lange aus waren. Lachen, jemand kreischt. Wahrscheinlich beugt sich jemand über das Mäuerchen und tut so, als wolle er in den Fluss springen. Man gewöhnt sich an solche Streiche, die Studenten treiben noch die gleichen alten Spielchen, als wäre vor ihnen noch nie jemand daraufgekommen. Er ruft seine Kumpel, die nur ein paar Zentimeter von mir entfernt vor der Tür stehen.
Verschwindet , murmele ich, geht weiter , auch wenn das Wasser noch nicht hoch genug sein dürfte, um Helen hineinzuwerfen.
Endlich ziehen die Schritte weiter, die Stimmen verklingen. Ich drehe den Schlüssel herum und gehe zu dem Mäuerchen. Wie vermutet fließt das Wasser träge mindestens zwei Meter tiefer vorbei. Steigt es immer so zögerlich?
Ein Polizeiboot rast mit gleißenden Lichtern vorbei, und das Wasser spielt verrückt, es wogt und klatscht und spritzt gegen die Backsteine. Es wirbelt um die dicke Kette herum, die an der Mauer befestigt ist. Von dem Schiffsanleger ganz in der Nähe kommt ein klägliches Heulen, als er im Kielwasser schaukelt.
Mir bleibt noch etwa eine Stunde, bis das Wasser hoch genug sein müsste. Wie versenkt man eine Leiche? Ich brauche etwas zum Beschweren. Am
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