Ich beschütze dich
Vernissagebesucher schlenderten hinüber zu dem Lagerhaus. Mittelalterliches Volk, das jung sein will, dachte Helen, bevor ihr aufging, dass diese Leute jünger waren als sie selbst. Mittleren Alters, aber jünger als sie. Wie konnte es plötzlich so weit gekommen sein? Sie seufzte tief. Sie wäre gerne mitgegangen und hätte noch etwas getrunken, aber sie war müde und musste noch Auto fahren. Und wahrscheinlich hatte Mick gekocht. Er würde auf sie warten.
Als sie sich anschnallte, wusste sie, dass sie ihr Limit wahrscheinlich überschritten hatte, aber sie fuhr schon seit so vielen Jahren Auto und hatte noch nie pusten müssen. Ich sehe wohl nicht so aus, als würde ich zu viel trinken, dachte sie. Die Polizei konzentrierte sich auf die jungen Fahrer. Barneys und Theos Freunde wurden ständig angehalten, obwohl sie nie etwas tranken, wenn sie noch fahren mussten.
Als sie gerade den Zündschlüssel herumdrehte, entdeckte sie auf der Straße vor der Galerie Jez’ Freundin. Alicia war allein und wirkte ein wenig verloren. Helen fuhr das Fenster herunter und lehnte sich hinaus.
»Soll ich dich mitnehmen, Alicia?«
Das Mädchen blickte auf. »Ach, cool.«
Helen öffnete die Beifahrertür, und Alicia stieg rasch ein.
»Nach Hause?«
»Muss wohl. Ich dachte, ich würde Jez bei Nadia treffen. Ich war mit ein paar Leuten aus meinem Kunstkurs da. Wir hatten ihn auch eingeladen. Wissen Sie, wo er steckt? Ich habe ihn seit Donnerstag nicht mehr gesehen.«
»Eigentlich dachte ich, er wäre bei dir«, antwortete Helen. Wann hatte sie ihren Neffen zuletzt gesehen? Nicht gestern Abend. Es könnte gut Donnerstag gewesen sein, als Alicia vorbeigekommen war und die beiden am Computer diese Buttons gemacht hatten.
Beim Losfahren warf Helen dem Mädchen einen Blick zu. Alicia war immer wieder ins Haus geschwirrt, seit Jez am letzten Samstag angekommen war, aber Helen hatte sie kaum zur Kenntnis genommen. Jetzt fiel ihr auf, wie hübsch das Mädchen war, ein fein geschnittenes Gesicht, elfengleich, blasse Haut. Im Grunde noch ein Kind. Mit einem leichten Stirnrunzeln blickte sie starr geradeaus.
»Alles in Ordnung?«, fragte Helen. Sie fuhr etwas zu schnell durch den Kreisverkehr an der Old Street und bremste, als sie Richtung Stadt abbog.
»Nein. Er geht nicht ans Handy und reagiert nicht auf meine SMS .«
»Er wollte an diesem Wochenende eigentlich zurück nach Paris fahren und sollte uns noch sagen, welchen Zug er nimmt, aber ich war kaum zu Hause. Die Jungs wissen es bestimmt.«
»Wir wollten uns gestern in dem Tunnel treffen. Er ist nicht gekommen, und jetzt mache ich mir Sorgen. Das passt nicht zu ihm.«
»In welchem Tunnel?«
»Dem Fußgängertunnel. Da treffen wir uns immer, wenn er bei Ihnen in Greenwich ist. Das ist, na ja, in der Mitte und so was wie unser Treffpunkt.«
Mein Gott, dachte Helen, wie kann denn irgendwer den Fußgängertunnel romantisch finden, selbst ein verknallter Teenager? Mit diesem feuchten Boden, als würde der Fluss durchsickern, den weißen Kacheln und den freiliegenden Stromkabeln. Dem Gestank nach altem Urin. Und weil die Fahrstühle nach sieben nicht mehr fuhren, musste man Hunderte Stufen hinauflaufen und dabei hoffen, dass niemand in den Ecken und Schatten lauerte.
»Sei in dem Tunnel lieber vorsichtig«, sagte Helen. »Wo soll ich dich rauslassen? Wenn es kein zu weiter Umweg ist, kann ich dich nach Hause bringen. Oder zur U-Bahn?«
»In die Docklands.«
Helen dachte wieder an Mick, der zu Hause irgendwas kochte. Zu seinen Spezialitäten gehörten Tunfischsteaks mit Udonnudeln, das machte er samstagabends oft. Ein kalter Weißwein und ein Essen vor dem Fernseher. Was wollte sie mehr? Sie hätte sich Nadias Vernissage sparen sollen.
»Das macht mich irre.« Alicia hörte sich an, als sei sie den Tränen nahe. »Er ist bestimmt sauer auf mich.«
»Jez? Bestimmt nicht«, sagte Helen. »Entweder ist er nach Paris gefahren, oder er ist bei seiner Band. Du weißt doch, wie die sind, wenn sie erst mal spielen. Sie vergessen alles um sich herum.«
Alicia zuckte mit den Schultern. »Er ist der beste Leadgitarrist von allen Bands, die ich kenne. Meine Freundinnen sind voll neidisch, weil ich mit ihm zusammen bin. Dabei weiß er nicht mal, wie toll er aussieht. Aber dass er mich so einfach hängen lässt, das ist noch nie passiert. Irgendwas stimmt da nicht.«
Als Helen die Commercial Street erreichte, wurde sie von einem Motorradkurier geschnitten und musste bremsen. Vor ihr wurde
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