Ich beschütze dich
Wohnzimmer vor dem Fernseher hing.
»Was?«, fragte Barney, mit einem Auge noch bei dem Film, den er gerade sah. Helen bedeckte das Telefon mit einer Hand.
»Sind Jez’ Sachen noch oben? Geh rauf und sieh nach!«, zischte sie.
»Soll ich mich sofort in den Zug setzen?« Marias Stimme hatte sich in hysterische Höhen geschraubt.
»Natürlich nicht«, sagte Helen. »Was ist, wenn er morgen früh in Paris eintrifft? Was er ganz bestimmt tun wird.«
»Wie konntest du eigentlich nicht mitbekommen, dass er heute fahren wollte? Hast du ihm nicht beim Packen geholfen?«
»Maria. Jez ist beinahe sechzehn. Er will doch nicht ständig von seiner Tante betüddelt werden. Ich habe ihn gefragt, welchen Zug er nimmt, aber für den Rest konnte er selbst sorgen.«
Es folgte ein langes Schweigen.
»Was?«, fragte Helen. »Was denkst du gerade?«
»Ich denke, ich hätte ihn gar nicht zu dir lassen sollen. Wir gehen Erziehung völlig unterschiedlich an. Bei dir grenzt sie an Vernachlässigung …«
»Maria! Wir können doch wohl höflich bleiben, auch wenn …«
»Na gut. Das hätte ich nicht sagen sollen. Heute nennt man das wohl wohlwollende Nichtbeachtung. Aber so etwas kennt Jez nicht. So viel Freiheiten hat er hier nicht. Er ist es gewohnt, sich an Termine zu halten und herumgefahren zu werden. Er kommt schon mit der Metro nicht klar. Da ist die Londoner U-Bahn für ihn ein Labyrinth. Mein Gott, was ist ihm nur passiert, Helen?«
»Es gibt bestimmt eine einfache Erklärung. Wir brauchen jetzt erst mal einen anständigen Drink und Schlaf.«
»Ein Drink ist ja dein Allheilmittel.«
Sie schwiegen angespannt, während Helen sich bemühte, nicht anzubeißen.
Maria fuhr fort: »Ich rufe Nadim an. Es geht nicht anders. Er muss wissen, dass sein Sohn vermisst wird.«
Helen wurde ungehalten.
»Jez war nur eine Nacht nicht hier. Das heißt doch nicht, dass er vermisst wird. Und wir tun hier alles, um ihn zu finden.« Sie beendete das Gespräch und wandte sich zu den anderen um. Ihr standen Tränen in den Augen, aus Wut über das schlechte Gewissen und das Gefühl der Unzulänglichkeit, das ihre Schwester ihr vermittelte, und weil sie sich langsam Sorgen machte, Jez könnte tatsächlich etwas zugestoßen sein.
»Sie hat Jez immer zu viel bemuttert. Wahrscheinlich ist es deshalb überhaupt zu dieser scheußlichen Situation gekommen«, sagte sie.
»Keine Sorge, Mum«, meinte Theo. »Es geht ihm bestimmt gut. Er ist ja nicht blöd.«
Barney kam zurück und pflanzte sich wieder vor den Fernseher.
»Und?«, fragte Helen.
»Was?«
»Jez’ Sachen. Sind sie da?«
»Ach so, ja. Sind sie. Er hat nicht gepackt. Seine ganzen Klamotten liegen auf dem Boden.«
Helen schloss die Augen. Setzte sich. Stützte den Kopf in die Hände.
»Wann ruft man in solchen Fällen die Polizei an?«, fragte sie durch ihre Finger hindurch.
K APITEL S IEBEN
Sonntag
Sonia
Sebs Mundharmonika liegt in einem Schuhkarton mit besonderen Dingen, den ich im Gästezimmer aufbewahre. Nervös drücke ich die große, gläserne Türklinke herunter, so lange war ich schon nicht mehr in diesem Zimmer. Aus dem einen oder anderen Grund übernachten selten Gäste bei uns. Es riecht muffig, nach Staub und altem Papier. Graues Licht fällt durch ein kleines Fenster in der Seitenwand des Hauses, auf das die Dächer der Seniorenwohnanlage und die hohen, dunklen Kamine des Kraftwerks ihre Schatten werfen. Auf den meisten Möbeln liegen auch nach unserem Einzug noch Staublaken. Es wäre unsinnig gewesen, die Mahagonikommode aufzudecken, die wir nie benutzen, oder die Ottomane unter dem Fenster.
Der Schuhkarton steht auf einem Regalbrett im Kleiderschrank. Vorsichtig nehme ich ihn heraus, hebe Sebs Palästinensertuch hoch und enthülle damit Dinge, die ich mir jahrelang nicht angesehen habe.
Ich will die Mundharmonika holen, um Jez zu besänftigen. Als ich heute Morgen zu ihm gegangen bin, war er aufgebracht, aber immer noch leicht benebelt von den Tabletten, und ich musste ihn beruhigen. Er dachte, er hätte wieder zu viel getrunken, und schämte sich. Er ist viel zu behütet groß geworden, um sich auch nur vorzustellen, die Freundin seiner Tante könnte ihm etwas in den Tee gemischt haben, und das weckt noch zärtlichere Gefühle in mir. Ich habe ihm versichert, er hätte nichts falsch gemacht, und habe angeboten, ihm zu holen, was immer er will, solange er mein Gast ist. Am Ende bat er bescheiden um die Mundharmonika.
Als ich den Schuhkarton durchsuche, werde
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