Ich beschütze dich
Tee, dann bin ich weg.«
So weit wollte ich es nicht kommen lassen, aber mir bleibt keine andere Wahl. Ich gehe zu dem Teetablett und lasse mit dem Rücken zu ihm eine Tablette von meiner Mutter in seine Tasse fallen.
»Zucker?«
»Zwei, bitte.«
Zur Sicherheit werfe ich dabei noch eine zweite Tablette in den Tee. Ich rühre gut um, bevor ich Jez die Tasse gebe.
Wir sitzen nebeneinander auf dem Bett und nippen an unserem Tee. Es sollte eigentlich ein schöner Augenblick sein, so wie gestern Abend, aber Jez verpfuscht ihn, indem er immer wieder zur Tür blickt, als wäre er nervös, als könnte er es gar nicht abwarten auszutrinken und von hier wegzukommen.
Es dauert nicht lange, bis das Mittel anschlägt. Erstaunlich, wie gut es wirkt. Ich habe schon fast gedacht, es würde nichts passieren und ich müsste ihn gehen lassen. Aber recht bald werden seine Lider schwer. Er nuschelt, er sei zu müde, um seinen Tee auszutrinken, stellt die Tasse ab und lehnt sich wieder gegen die Kissen. Ich beobachte ihn. Mühsam versucht er, die Augen zu öffnen, seine Lider flackern. Mit den Lippen will er ein Wort formen. Er hebt den Arm, als wollte er nach etwas greifen, das ich ihm hinhalte, aber dann lässt er den Arm fallen, als wäre es zu anstrengend. Die Augen fallen ihm zu, sein Kopf sackt zur Seite. Ich bin selbst erschrocken über das, was ich gewagt habe. Und gleichzeitig überkommt mich eine unglaubliche Ruhe, weil ich ihn habe. Er gehört mir.
Ich stelle meine Tasse ab und beuge mich über ihn. Das Licht von draußen ist beinahe verblasst. Er sieht aus wie jemand aus einem Schwarz-Weiß-Film, die Dämmerung hebt die Schatten auf seinem Gesicht hervor. Er ist noch schöner, als ich zuerst dachte.
Ich lehne mich vor und küsse ihn. Ohne Zunge, nur meine Lippen ruhen sanft auf seinen und spüren ihre weiche Unverbrauchtheit. Beinahe ohne Druck berühre ich ihn, ich bewege mich nicht, bin ganz still und genieße den köstlich weichen Kontakt. Und bin wieder bei Seb, als die Welt sich noch vor uns erstreckte wie eine weite, ewige Spielwiese.
Ich hebe einen seiner Füße an. Er ist so groß, dass ich ihn mit beiden Händen fassen muss. Ich ziehe ihm Turnschuhe und Socken aus. Nicht einmal hier ist etwas unangenehm. Dieses natürliche Parfüm hätte ich nur bei Babys erwartet. Ich staune darüber, wie zart seine Haut ist. Am liebsten würde ich seine rosafarbenen, frisch duftenden Zehen in den Mund nehmen, einen nach dem anderen. Ich stelle mir vor, wie sich seine Haut anfühlen würde, wie die Nägel an meinem Gaumen kratzen. Der Geschmack wäre neu und zart.
Aber es hat seinen ganz eigenen Reiz, sich manches für später aufzuheben. Die Vorfreude zu genießen. Nachdem Jez hier im Musikzimmer ist, habe ich wieder alle Zeit der Welt.
K APITEL F ÜNF
Samstagabend
Helen
Schwangere Leiber ohne Köpfe und Beine thronten in der Galerie verstreut auf Sockeln. Helen stützte sich mit einem Weinglas in der Hand auf einer Säule ab. Sie stellte sich anders hin, um gelassener zu wirken, und trank einen großen Schluck. Ihre Handflächen waren feucht.
Neben den Torsos gab es als Herzstück der Ausstellung ein Wasserbecken, über das Ultraschallaufnahmen von Föten projiziert wurden, und eine Gemäldeserie in kräftigen Orangetönen mit dem Titel »Variationen über das Swadhisthana«.
»Es geht um das Sakralchakra. Den Sitz von Fruchtbarkeit und Schaffenskraft.« Nadias Stimme direkt neben ihrem Ohr ließ Helen zusammenzucken. »Ich glaube ja fest, dass mir orangefarbene Achate geholfen haben, schwanger zu werden. Deshalb habe ich die Farbe so viel benutzt.« Nadia war mit fünfundvierzig zum ersten Mal schwanger geworden und benahm sich, als hätte noch nie eine Frau ein Kind bekommen.
»Ach so«, sagte Helen. »Aber warum die Gipsabdrücke?«
»Ich weiß, das ist nicht besonders originell«, meinte Nadia. »Heutzutage macht die ja jeder. Aber ich wollte jede Phase einfangen. Ich habe Modroc benutzt, aus dem Internet. Ein unglaublich vielseitiges Material.«
»Sie sind wirklich realistisch«, sagte Helen. »Man kann jede winzige Falte und Unebenheit in der Haut erkennen.« Ihr fiel der dunkle Abdruck auf, den ihre feuchte Hand auf ihrem Rock hinterlassen hatte. Sie veränderte ihre Haltung, um ihn zu verstecken, und blickte zu Pierre, Nadias Partner, hinüber, der mit einem Tablett voll Weingläser eine Runde drehte.
»Kennst du hier jemanden?«, fragte Nadia. »Soll ich dich ein paar Leuten vorstellen?«
Helen
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