Ich beschütze dich
nachfahren. Oder wohin sie auch immer gehen. Uns da verstecken.«
»Das ist gefährlich, Seb.«
»Oder da drüben, auf der Isle of Dogs.«
Die dunkle Seite des Flusses, auf der schwarze Fenster aus düsteren Lagerhäusern auf das Wasser starrten und Schlote giftige Dämpfe in die verschmutzte Nachtluft pusteten, war für uns Sperrgebiet. Auf den Trockendocks und heruntergekommenen Anlegestellen verbargen sich allerhand Krankheiten und stinkender Unrat. Ich war ermahnt worden, nicht auf die andere Seite zu gehen. Nicht allein den Fußgängertunnel zu benutzen, die Isle of Dogs sei gefährlich. Ich sollte auch nie versuchen hinüberzurudern. Beim Gezeitenwechsel treffen einströmendes und abfließendes Wasser zusammen, sie ringen miteinander und erzeugen Strömungen, die unvorhersehbar und tödlich sein können.
Seb meinte, sie könnten uns nicht aufhalten. Ständig wollten sie mich davon abhalten, dieses oder jenes zu tun. Sie sagten immer, ich sei zu jung. Er erklärte mir, sie würden mit meinem Geist das Gleiche machen wie die alten Chinesen mit den Füßen der Mädchen. Sie zwängten ihn in eine zu kleine Form, in der er nie wachsen oder sich natürlich entwickeln konnte.
»Wir beide kennen doch den Fluss, wir können mit ihm umgehen«, sagte er. »Und sobald es warm genug ist, bauen wir ein Floß und rudern weg, und niemand wird uns aufhalten.«
Sebs Plan ruhte in meinem Herzen, genau wie jetzt Jez’ Versteck mein Geheimnis ist, wohlig verborgen wie ein zusammengekauertes Schwanenküken unter einem Flügel.
K APITEL E LF
Dienstag
Sonia
Ich sitze im 386er zu meiner Mutter. Heute wird mal wieder ganz London aufgerissen, um Abwasserleitungen zu erneuern, Kabel zu verlegen oder geplatzte Rohre auszutauschen. Das Innere der Stadt wird nach außen gekehrt, ihre Eingeweide werden entblößt. Unter den Gehwegen und dem Asphalt liegt eine ganze Welt, nicht nur das U-Bahn-Netz, auch Labyrinthe, die Strom und Gas und Wasser in die ganze Stadt bringen, dazu Abwasserrohre und Tunnel und Keller und Untergeschosse. Richtige Kammern und unterirdische Flüsse. Auch Ratten und Würmer und diese Höhlenkreuzspinnen. Knochen und Blut und verwesende Leichen. Die meisten Londoner Pestopfer liegen unter dem Rasen von Blackheath. Der Boden ist hier gespickt mit Knochen. Was wir an der Oberfläche sehen, wenn wir unseren alltäglichen Besorgungen nachgehen, ist nichts mehr als die brüchige Hülle eines riesigen Friedhofs.
Heute Morgen sind überall Baustellen, der Verkehr kommt nur im Schneckentempo voran. Ich überlege, an der nächsten Haltestelle auszusteigen und eine Abkürzung durch den Park zu nehmen, aber als ich gerade aufstehen will, beschleunigt der Bus ruckartig. Über die Bäume im Greenwich Park, hinter den weißen Kolonnaden neben dem Queen’s House, fegt ein Regenschleier, und ich kann Seb und mich sehen, wie wir an diesem einsamen, verregneten Nachmittag den Hügel hinauflaufen und aufgekratzt lachen, weil wir verfolgt werden. Vor wem sind wir weggelaufen?
Wir suchten das kleine, rote Backsteinhaus, das, eingesperrt hinter einem niedrigen Eisenzaun, mysteriöserweise immer verschlossen blieb. Beim Rennen spritzte uns kalter Regen ins Gesicht, der den Geruch von Erde und feuchtem Laub aufsteigen ließ. Seb lief vor. Er hob Stöcke auf und schleuderte sie den Hügel hinunter, unserem unsichtbaren Verfolger entgegen. Es dauerte lange, bis wir das Haus fanden, wir liefen kreuz und quer durch den Park, erst über die asphaltierten Wege, dann auf Trampelpfaden über die Wiesen mit ihrem Wildwuchs. Endlich entdeckten wir es. Weit hinten in der Nähe der Croom’s Hill kuschelte es sich unter die Äste von Eichen und Kastanien. Es war hübsch, mit einem Bogen über der grünen Tür und einem großen, schwarzen Türklopfer, obwohl niemand dort wohnte. Es hatte auch keine Fenster.
Seb sprang über den Zaun und hämmerte gegen die Tür.
»Lassen Sie uns rein«, rief er und rüttelte an der Klinke.
»Das bringt doch nichts. Es ist immer abgeschlossen«, sagte ich. »Hier wohnt niemand.«
Der Park war verlassen und still bis auf das Prasseln des Regens auf dem Laub. Vor wem wir auch davongelaufen waren, er war verschwunden.
»Mir ist kalt. Können wir nicht ins Café gehen und einen heißen Kakao trinken?«, fragte ich.
»Hast du Geld?«
»Nein.«
»Ich auch nicht. Ich will wissen, wie es drinnen aussieht.«
»Das ist nur der Eingang zu den Schächten.«
»Was für Schächte?« Seb hob ein Aststück auf, das
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