Ich beschütze dich
einem weiteren kleinen Foto, auf dem er kaum zu erkennen ist, schlägt Jez gerade einen Salto. Der Text dazu lautet:
Jez Mahfoud beim Freerunning auf der Greenwich Pensinsula vor einer Woche. Handyfoto.
Weiter heißt es in dem Artikel:
»Ein Unfall durch Ertrinken kann noch nicht ausgeschlossen werden«, sagt Inspector Kirwin. »Die Wasserschutzpolizei führt zwischen Greenwich und der Themse Barrier eine gründliche Suchaktion durch.« Die Polizei hat mittlerweile auch Kontakt mit Mahfouds Vater aufgenommen, einem franco-algerischen Journalisten aus Marseille.
Die Polizei bittet jeden, der Jez Mahfoud gesehen habe könnte, dringend um Hinweise. Der Vermisste ist etwa 1,80 m groß, hat schwarzes, in die Stirn gekämmtes Haar und trägt eine Lederjacke, Jeans und Adidas-Turnschuhe.
Über den Fehler bei der letzten Angabe muss ich lächeln. Jez trägt Turnschuhe von Nike, die am Knöchel etwas höher sind. Bei einem zweiten Blick auf das Foto fällt mir auf, dass er darauf jünger ist. Noch ein Kind. Jetzt ist er kräftiger geworden, sein Haar ist länger. Ein wohliger Schauer durchläuft mich bei dem Gedanken, dass er mir gehört. Aber als ich aufstehe, wackeln mir die Knie. Ich stolpere. Das ist albern. In dem Bericht wird so getan, als wäre ihm etwas zugestoßen. Dabei ist Jez bei mir sicher. Er bekommt alles, was er sich wünscht, mehr noch. Muss ich jeden anrufen und sagen, dass Jez zu mir gekommen ist und eine Weile bleibt? Dass ich mich um ihn kümmere? Warum sollte ich? Er hat es bequem. Es geht ihm wie Gott in Frankreich.
Benommen stopfe ich die Zeitung in den nächsten Abfallbehälter und mache mich auf den Weg zur Bäckerei. Es kommt mir vor, als würden sich die Leute in der Schlange nach mir umdrehen und mich anstarren, deshalb senke ich den Kopf, als ich den Kuchen und die Sandwiches bezahle. Meine Hände zittern, Geld fällt aus meinem Portemonnaie, die Münzen verteilen sich über den Boden, so dass ich zwischen den Füßen der anderen Kunden herumsuchen muss, um sie aufzuheben. Niemand hilft mir, und in mir steigen Hitze und Wut auf.
Als ich zurück zum Fluss eile, erhebt sich plötzlich Tumult. Das Wummern eines Polizeihubschraubers, das Knirschen des Schiffsanlegers, das Rasseln der Kräne steigern sich gleichzeitig zu einem Crescendo, wie ein einsetzender Stadiongesang. An dieses Phänomen des Flusses sollte ich gewöhnt sein, aber in diesem Moment ist es zu viel. Es kommt mir vor, als sei alles gegen mich gerichtet, wie ein großes Gejohle. Ich bleibe stehen und lehne mich gegen das schwarze Geländer, um zu Atem zu kommen.
Endlich erreiche ich den Uferweg, und der Lärm nimmt ab. Die Sonne ist so weit gewandert, dass der Weg im Schatten liegt. Ich schaudere, aber ich bin nicht sicher, ob es an der Kälte liegt. Eilig passiere ich das Anchor. Michael ist hineingegangen, nachdem er den Gehweg gefegt hat. Auf die Tafel hat er ein Angebot für Veilchendienstag geschrieben, eine Meeresfrüchteplatte gefolgt von Pfannkuchen mit Zitrone und Zucker. Durch die Tür sehe ich die ersten Gäste an der Bar lehnen, ein Hauch Desinfektionsmittel steigt mir in die Nase. Seit dem Rauchverbot riechen Pubs nicht mehr wie Pubs, sondern nach Reinigungsmitteln, stechend und vorwurfsvoll. Wie schön war doch die Zeit, als Zigarettenrauch all unsere Sünden verschleierte! Ich drücke die Papiertüte mit den Backwaren gegen meine schmerzende Brust. Meine Schritte hallen von den Wänden wider. Mein Atem ist ein kurzes, flaches Keuchen. Mich überkommt der Drang loszulaufen. Aber wohin? Und warum?
Helen! Natürlich könnte ich sie anrufen und alles erklären. Aber ich habe ewig nicht mit ihr gesprochen. Sie wird wissen wollen, warum ich mich nicht früher bei ihr gemeldet habe. Sicher findet sie es merkwürdig.
Andere Gedanken drängen sich in meinen Kopf. Heute ist Montag. Jez wird seit Freitag vermisst. Das sind drei Nächte. Ich kann ihnen nicht sagen, er sei die ganze Zeit bei mir gewesen. Das wird niemand verstehen. So etwas passt in kein Weltbild, von niemandem. Aber das heißt noch lange nicht, dass es nicht richtig sein sollte. Und die Reporter, die schon so früh Wind von der Geschichte bekommen haben, machen daraus garantiert etwas Schmutziges. Wenn es herauskommt, ziehen sie es in den Dreck.
Dabei ist dem dummen Schreiberling dieses Artikels nicht klar, dass ich Jez seinetwegen unmöglich gehen lassen kann. Wenn ich es tue, landet sein Gesicht auf jeder billigen Zeitung im ganzen Land. Die
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