Ich beschütze dich
habe immer noch einen trockenen Mund –, kommt er ebenfalls herüber, stellt sich mit dem Rücken davor und verschränkt die Arme über seinem Fair-Isle-Pullover. Die dunklen Bartstoppeln ziehen einen Schatten über sein Kinn, die Haut ist leicht gerötet, und ich bemerke einen Anflug von Hängebacken. Mir wird wieder bewusst, wie vergänglich Jez’ Jugend ist, ich spüre regelrecht, wie sie vergeht, während ich Harrys Mund betrachte, dessen schmale, trockene Lippen sich öffnen und schließen. Er redet über etwas, das mich nicht im Geringsten interessiert.
»Der Ruderclub da drüben.« Er zeigt durch das Küchenfenster auf das andere Ufer. »Sind Sie und Greg da Mitglieder? Ich würde es gerne mal ausprobieren, wenn Sie im Sommer noch hier sind. Aber das ist wohl unwahrscheinlich.«
Ich starre ihn an.
»Wir hatten in einem Bootshaus am Uferweg immer eine Jolle liegen. Einen Club haben wir nie gebraucht«, antworte ich kühl.
»Ach, das verstehe ich gut.«
»Wirklich?«
»Ja, sicher. Die meisten Vereine sind Zeitverschwendung. Auch wenn Kit und ich ganz gerne in den Tennisclub an der Uni gehen.«
Ich würde gerne hinzufügen, dass ich mit Sicherheit im Sommer noch hier sein werde, das aber noch keine Einladung für ihn bedeutet. Aber er redet schon wieder weiter. Dem erneuten Wortschwall aus seinem Mund kann ich kaum folgen. Irgendwie geht es um Bindungen zu Häusern und darum, man müsse loslassen können. Darüber will ich mit ihm nicht reden. Ich sage, ich müsste die Gummihandschuhe für Judy heraussuchen, und durchwühle den Schrank unter der Spüle in der Hoffnung, er würde den Hinweis verstehen und gehen. Aber er hat sich breitbeinig in der Küche aufgebaut, als würde das Haus ihm gehören. Warum bin ich mit diesem Mann hier, während der Mensch, bei dem ich sein möchte, frierend und gefesselt in der Garage liegen muss?
Um zehn Uhr treffen wir beim Anleger ein. Sheila, die Fahrkartenverkäuferin, hat sich einen dicken Wollschal umgeschlungen, ihr Gesicht ist vom böigen Wind noch stärker gerötet als sonst. Weder Greg noch Kit plaudern mit Leuten aus dem Viertel, aber weil ich gern ein paar Worte mit Sheila wechsle, sage ich Harry, ich würde die Fahrkarten besorgen. Endlich lässt er mich allein und geht zu den beiden in den gläsernen Warteraum am Ende des Anlegers.
»Der Nächste kommt in zehn Minuten«, sagt Sheila und reißt die Karten ab. Ein orangefarbenes Rettungsboot rast flussabwärts vorbei, sein Kielwasser lässt den Anleger ächzend und knarrend wippen.
»Den Jungen ham sie immer noch nicht gefunden«, sagt sie. »Sie suchen den Fluss jetzt schon tagelang ab.«
»Welchen Jungen?«
»Ham Sie die Zeitungen nicht gesehen?«
Sheila arbeitet schon auf dem Anleger, seit ich denken kann. Sie wohnt in Woolwich mit ihrem alten Vater und so vielen Katzen, dass sie den Überblick verloren hat. Die Lokalzeitung liest sie immer mit Feuereifer, ihr entgeht nichts.
»Es ist besonders schlimm, wenn der Fluss einen jungen Menschen holt. Da muss man immer an die Eltern denken. Die Zeitungen können schreiben, was sie wollen, das war bestimmt Selbstmord. Das kommt von dem Teufelszeug, das die so rauchen. Ich habe schon viele gesehen, die das fertiggemacht hat, und das gibt’s jetzt überall, heutzutage wird das schon vor Grundschulen verkauft. Das zieht sie runter, sie kriegen richtig üble Depressionen, aus denen sie nicht rauskommen. Ich glaube, der hat sich umgebracht.« Sie schüttelt den Kopf und fragt, wie es mir geht.
»Sehr gut, danke, Sheila. Es ging mir nie besser.« Ich wiege mich in dem Wissen, dass Jez weder ertrunken ist noch an einer Kifferdepression leidet, sondern lebt und wohlauf und bei mir ist. Auch wenn er im Moment geknebelt in der Garage liegt, kann ich ihn morgen, sobald mein Mann und meine Tochter gefahren sind, wieder in sein wunderschönes Musikzimmer bringen.
Nachdem ich mit Sheila noch ein paar Höflichkeiten ausgetauscht habe, gehe ich zu den anderen in den Warteraum. Das nahende Boot treibt weitere Wellen gegen die Seite des Anlegers.
Der Clipper schlingert heute auf dem Wasser. Es ist stürmisch und zu kalt für meinen Lieblingsplatz an Deck. Als wir in einem weiten Bogen die Flussmitte ansteuern, scheinen die Häuser in Canary Wharf, in deren Fenstern sich der bleierne Himmel spiegelt, zu wogen.
Obwohl mir der Fluss vertrauter ist als meine eigene Haut, kann er mir Angst einjagen. So wie heute. Die grauen Wellen wirken feindselig, erschreckend heben sie das
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