Ich beschütze dich
hat Simon schon erzählt. Und dass du deine Termine absagen musstest.« Helen lächelte erleichtert über die Erklärung, die sie wieder milder stimmte.
»Du hast Simon gesehen?«
»Von ihm habe ich doch die Karte. Du bist nicht ganz bei der Sache, oder, Sonia? Du brauchst einen Drink, Süße. Weißt du was, wir treffen uns nachher, und ich lade dich zu Champagner ein. Ich brauche wirklich jemanden zum Reden. Es ist etwas Schreckliches passiert. Mit meinem Neffen. Er ist verschwunden. Und … ach Mist, ich sollte jetzt nicht davon anfangen. Das bringt mich nur aus der Fassung. Wir sind alle fassungslos, es ist so ein Durcheinander. Bitte komm nachher mit etwas trinken. Wenn es dir gut genug geht. Oh, Greg. Hallo.«
»Helen«, begrüßte Greg sie. »Wie geht es dir? Entschuldige, Sonia, ich wollte nur sagen, dass Kit und Harry ein Programmheft besorgen. Ich gehe nur kurz zur Toilette, wir treffen uns am Platz.«
»Ich habe Sonia gerade gefragt, ob sie nachher mit mir etwas trinken geht«, sagte Helen. »Kannst du sie entbehren? Das letzte Mal haben wir uns zu zweit getroffen … Mein Gott, wie lange ist das her, Sonia? Monate! Und ich muss mit ihr über …«
»Von mir aus!«, sagte Greg. »Ich gehe mit Kit und Harry essen. Dann können die beiden mir alle Neuigkeiten erzählen. Du und Sonia könnt den ganzen Nachmittag über tratschen.«
Nach dem letzten Akt suchten sich Helen und Sonia einen Tisch in der Bar. Greg kam herüber und versicherte ihnen noch einmal, sie hätten alle Zeit der Welt. Er wollte mit Kit und Harry ein Restaurant in Covent Garden besuchen und Sonia auf dem Rückweg abholen.
»Also.« Helen beugte sich näher zu ihrer Freundin und schenkte jeder ein großes Glas Prosecco ein. Was ihr gefehlt hatte, das merkte sie jetzt, was sie wirklich brauchte, war eine unbeteiligte Freundin, bei der sie ihren Stress abladen konnte.
»Du erinnerst dich wahrscheinlich nicht mehr an meinen Neffen Jez, oder?«
K APITEL A CHTZEHN
Freitag
Sonia
Die Bar in der Oper wimmelt vor Menschen, die unbedingt einen Drink wollen.
»Mein Neffe, Jez«, sagt Helen, »der Sohn meiner Schwester. Er hat uns besucht, um sich Musikcolleges anzusehen.«
Ich suche nach einer Uhr. Finde aber keine. Es muss gegen fünf sein. Jez liegt allein und gefesselt seit letzter Nacht in der Garage. Ich bekomme es mit der Angst zu tun. Irgendetwas wird verhindern, dass ich zu ihm gehe. Ich will hören, was Helen zu erzählen hat, aber das hält mich noch länger auf. Unwillkürlich habe ich das Gefühl, ich müsste wissen, was in Jez’ Familie vor sich geht, wie sie seine Abwesenheit aufnimmt. Welchen Grund sie vermutet. Das gibt mir vielleicht wichtige Hinweise darauf, wann und wie ich ihn zurückbringen kann. Helen redet schon, ich sehe, dass sich ihre Lippen bewegen, doch ich kann die Worte nicht hören. Sie werden von den Ängsten übertönt, die sich in meinem Kopf aufstauen: Der Clipper wird wegen des stürmischen Wetters eingestellt, der Strom fällt aus und die U-Bahnen fahren nicht mehr. Ich schaffe es heute Abend nicht zurück, und Jez ist mit Klebeband an das Bett gefesselt und kann weder essen noch trinken. Er wird langsam und qualvoll sterben. Er wird glauben, dass ich es so wollte, während ich mir in Wahrheit das Gegenteil für ihn gewünscht habe.
Und dann passiert es. Ich sehe blaue Lichter, höre Sirenen und bestürzte Erwachsenenstimmen und bin wieder dort.
Nach den Polizeibooten und Krankenwagen und den blauen Lichtern und dem Lärm finde ich mich auf einer harten Resopalbank in einem kalten Flur wieder. Nichts konnte mich wärmen. Weder die Rinderbrühe, die sie mir in einem Styroporbecher gaben, noch die grobe, graue Decke, die sie mir um die Schultern legten.
Die Bank war von Menschen umringt, die auf mich herabsahen und mir Fragen stellten.
»Ich habe festgehalten«, sagte ich weinend. Vor Zittern knirschte ich mit den Zähnen. »Ich habe nicht losgelassen.«
Dann tauchte in dem Meer aus Gesichtern eine Krankenschwester auf, mit blasser Haut und goldenem Haar, das sich unter ihrem weißen Häubchen hervorlockte, aber was mir auffiel, waren ihre Augenbrauen, fein gezupft und hoch gewölbt. Sie sah aus wie nach einem fürchterlichen Schreck. Daran erinnere ich mich noch lebhaft, an ihren ängstlichen Gesichtsausdruck, und wie sie leicht den Mund verzog, als sie die Worte formte: »Es tut mir leid.«
Ich wartete darauf, dass sich ein Arm um mich legte, auf Trost. »Sie haben sich geirrt.«
Stattdessen
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