Ich beschütze dich
Boot an und lassen es herunterkrachen. Ich kann mich nicht entspannen. Ich will nicht in die Tiefe sehen, als der Clipper Fahrt aufnimmt und wir über die Wellen springen.
Wir lassen Greenwich auf der einen und die Hochhäuser auf der anderen Seite hinter uns und fahren flussaufwärts zum Masthouse Terrace Pier und weiter zum Greenhouse Pier. Nach zwanzig Minuten legen wir in Canary Wharf an. Es überrascht mich immer wieder, dass die Fahrt auf dem Fluss hierher so lange dauert, obwohl es unserem Haus scheinbar direkt gegenüberliegt. Und dass man dagegen das Queen’s House am anderen Ende von Greenwich zu Fuß in fünf Minuten erreicht hat.
Als wir weiterfahren, unterhält sich Greg mit Harry. Er hat ihm von der Bar ein Bier mitgebracht, und jetzt führen sie ein Männergespräch. Kit schreibt jemandem eine SMS , den Kopf konzentriert über ihr Handy gebeugt. Ich würde mich gern neben sie setzen und über alltägliche Dinge reden, so wie sich in meiner Vorstellung andere Mütter und Töchter die Zeit vertreiben. Aber ich weiß nicht, wie ich es anfangen soll. Greg dagegen redet ohne Unterlass. Der Fluss sei früher stärker befahren gewesen als die Straßen, überall Masten und so viele Boote, dass sie einander kaum passieren konnten. Und das Lagerhaus für Tabak in Wapping sei einmal das größte öffentliche Gebäude der Welt gewesen. »Kaum zu glauben, aber es wurde von demselben Typen entworfen, der die Gefängnisse in Dartmoor und Maidstone gebaut hat.«
Harry nickt nachdenklich, aber ich frage mich, wie sehr er sich tatsächlich für Gregs Vortrag interessiert.
»Sehen Sie mal da drüben. Da hat man Leute für Verbrechen ›auf hoher See‹ hingerichtet. Und auf der Polizeiwache wurde ›das traurigste Buch der Welt‹ geführt. Ein Verzeichnis von versuchten und gelungenen Selbstmorden. Nicht gerade eine heitere Angelegenheit, aber die Themse hatte schon immer ihre dunklen Seiten.« Greg nippt an seinem Bier.
Ich kauere mich leicht zusammen. Mir ist immer unwohl, wenn ich die schicken Wohnhäuser sehe, die in den Achtzigern am anderen Ufer rücksichtslos hochgezogen wurden. Es kommt mir so vor, als hätte der Fluss für solchen Firlefanz nichts übrig. Die Lagerhäuser, von denen Greg erzählt, und die Hafenanlagen, die West India Docks auf der Isle of Dogs, waren der Themse in meiner Kindheit durch die Arbeit verbunden, die Lastkähne luden dort ihre Waren ab. Zwischen den Gebäuden und dem Fluss, der sie nährte, bestand eine Art gegenseitiger Respekt. Aber diese Apartments und Gebäudekomplexe blicken auf das herab, was unter ihnen geschieht. Sie haben keinerlei Bezug zum Fluss. Harry besitzt offensichtlich auch keine innere Verbindung zur Themse. Und selbst Greg scheint nur wenig mit ihr anfangen zu können. Es liegt ihm nicht so im Blut wie mir. Er wird nie richtig begreifen, warum ich nicht woanders leben kann.
Ich klammere mich an die Seiten meines Sitzes und stelle mir die Geheimnisse vor, die der Fluss in seinen Tiefen verbirgt, die Schätze, die er bei Ebbe hervorspült. Tamasa . »Dunkler Fluss.« Heute wirkt die Themse noch dunkler als sonst.
Wir erreichen den Pool, den Flussabschnitt zwischen der Tower und der London Bridge, und rauschen an das Bankside Pier, wo das Boot heftig abbremst. Es wird von dem stürmisch aufgewühlten Wasser hin und her geworfen, während dicke Taue an Land fliegen.
Als wir unter der Blackfriars Bridge hindurchfahren, erzählt Greg dem langmütigen Harry, die Brücke sei nach einem Dominikanerorden benannt, der früher in der Nähe lebte. Dann gleiten wir an South Bank vorbei, wo blaue Lämpchen in den Bäumen hängen. Kit zieht Harry an der Hand von Greg fort, sie lehnen sich gegen die Fenster und sagen, wie hübsch es doch aussehe. Endlich erreichen wir unbeschadet das Embankment.
Wir gehen die Villiers Street hinauf und überqueren die Strand zur Oper. Wenig später sitzen wir bequem im rot-goldenen Herzen des Theaters, so weit vom dunklen Lauf der Themse entfernt, wie man es nur sein kann.
Greg konnte uns Plätze im Rang besorgen. Ich sehe mich im Saal um, atme den schwachen Hauch teurer Parfums ein und klatsche mit, während die Musiker ihre Plätze im Orchestergraben einnehmen. Als die Vorhänge aufgezogen werden, gebe ich mich der Musik und dem Drama hin, weil ich nichts tun kann, bevor der letzte Akt gespielt ist.
Die Oper hat sogar kathartische Wirkung auf mich. Genau wie ich leidet Tosca unter Eifersucht und verdächtigt jeden, der die
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