Ich beschütze dich
Aufmerksamkeit ihres Geliebten auf sich ziehen könnte. Trotzdem würde sie alles für ihn tun, sogar für ihn töten; ihr Mut ist bewundernswert. Trotz allem, trotz der Musik und der Geschichte findet ein Teil von mir keine Ruhe. Ich warte nur auf den Augenblick, in dem ich zu Jez zurückkehren kann. In dem ich seine gefesselten Hände befreie und ihm zeige, dass ich für ihn da bin.
Aber heute ist das Schicksal gegen mich. Als ich in der Pause vor den anderen die Treppe hinuntergehe, laufe ich Helen in die Arme.
K APITEL S IEBZEHN
Freitag
Helen
Helen verließ Freitagmittag erleichtert die Arbeit, weil sie wusste, dass sie direkt in die Oper fahren würde. Vielleicht würde die Polizei gar nicht überprüfen, ob sie am vergangenen Freitag gearbeitet hatte. Aber sie hatte sich schon die Ausrede zurechtgelegt, sie hätte das Dampfbad besucht. Das konnte doch sicher niemand überprüfen. Der Besuch war anonym, und die Frau, die in ihrem Kabuff die Eintrittskarten verkaufte, blickte beim Kassieren kaum auf. Falls die Polizei wissen wollte, warum sie das nicht gleich gesagt hatte, wollte Helen erklären, es sei ihr peinlich gewesen, dass sie eine beginnende Erkältung mit einem Besuch im Dampfbad bekämpft hatte, statt zur Arbeit zu gehen.
Später frage sich Helen selbst, warum sie mit so viel Aufwand vertuschen wollte, wo sie gewesen war, doch in diesem Moment konnte sie sich nichts Schlimmeres vorstellen, als dass irgendwer, und sei es die Polizei, herausbekam, dass sie in einem Pub in Smithfield gegen ihren Kater angetrunken hatte. Damit hätte sie wie eine Alkoholikerin dagestanden. Alle hätten geglaubt, Helen sei völlig am Ende, und Maria hätte es weitere Munition geliefert, um ihr Verantwortungslosigkeit vorzuwerfen.
Helen nahm die U-Bahn nach Covent Garden und lief zum Royal Opera House. Nach dieser aufreibenden Woche musste sie einfach raus.
Ben spielte in ihren Gedanken längst nicht mehr die Hauptrolle. Diesen Part hatte Mick übernommen. Wie er sich geschniegelt und gestriegelt hatte. Was sollte das? Sie versuchte, Mick mit Marias Augen zu sehen. Sie konnte nicht mehr einschätzen, ob er auf andere Frauen attraktiv wirkte. Vielleicht war dieses neue Gefühl von Misstrauen und Eifersucht auf ihre Schwester eigentlich ein schlechtes Gewissen, überlegte sie. Um sich für ihren Fehltritt mit Ben zu bestrafen. So oder so erkannte sie dadurch, dass sie Mick noch liebte und den Gedanken nicht ertrug, ihn zu verlieren.
Helen bestellte an der Bar einen Gin Tonic und kippte ihn schnell hinunter. Als es zum ersten Akt klingelte, suchte sie ihren Platz. Mit der Wirkung des Alkohols überkam sie leichte Benommenheit, und sie ließ die Musik und die Aufführung an sich vorbeirauschen.
Helen entdeckte Sonia, bevor Sonia sie sah. Über die Köpfe der Besucher hinweg, die zur Pause aus dem Saal strömten, versuchte Helen ihren Blick aufzufangen, aber es war unmöglich. Sonia wirkte abgelenkt, genau wie vor ein paar Tagen auf dem Markt, und Helen musste wieder an die Depression denken, die Nadia erwähnt hatte. Sie winkte, um auf sich aufmerksam zu machen, doch Sonia blickte nicht auf, und schließlich wurde Helen von ungeduldigen Leuten, die einen Drink wollten, die Treppe hinuntergescheucht.
In der Bar schob sich Helen durch das Getümmel, bis sie Sonia schließlich auf einer anderen Treppe entdeckte.
»Sonia! So ein Zufall«, sagte sie. »Na ja, eigentlich nicht. Ich hätte mir denken können, dass du mit Greg hier bist. Er würde doch keine Probe von Tosca verpassen! Ich habe eine Karte von Simon. Er wollte sie dir anbieten, aber er dachte, Greg hätte wahrscheinlich jemandem eine abgeschwatzt.«
Sonia nickte, aber als sie Helen ansah, wirkte ihr Blick glasig.
»Wie schön, dich zu sehen«, sagte Helen. »Wir haben ja ewig nicht miteinander geredet. Du hast wahrscheinlich keine Zeit für einen kleinen Plausch, oder? Nachher, meine ich. Geht es dir gut? Du siehst blass aus.«
»Mir fehlt nichts«, sagte Sonia.
Helen war wie vor den Kopf geschlagen. Wäre es Sonia schlecht gegangen, hätte sie Mitgefühl gezeigt, aber diese Antwort klang eindeutig frostig. Vielleicht wollte Sonia den Kontakt ganz abbrechen, weil ihre Kinder jetzt erwachsen waren. Das hätte Helen wirklich getroffen. Sie konnten sich doch wenigstens höflich unterhalten, und sei es nur der alten Zeiten wegen.
Dann sagte Sonia: »Ich hatte diese Woche eine kleine Grippe. Ich fürchte, ich bin noch nicht ganz auf dem Damm.«
»Ach ja. Das
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