Ich beschütze dich
passt es nicht.«
»Bitte, Sonia. Ich bin mit dieser Sache ganz allein …«
Sie klingt ehrlich. Einen falschen Unterton zu erkennen habe ich bei meiner Arbeit gelernt, und ich bin mir ziemlich sicher, dass da keiner ist. Natürlich könnte sie vorbeikommen. Ich könnte ihr das Gleiche sagen wie Simon, dass man die Treppe zum Musikzimmer nicht betreten darf, solange die Dielen fehlen. Aber Helen würde nicht wieder gehen. Bei Simon und meinen anderen Schülern ist es etwas anderes. Sie bezahlen für ihre Zeit. Helen könnte stundenlang erzählen. Sie muss keinen Termin einhalten. Und in der Küche ist noch die Decke. Der Plastikbecher, in dem ich ihm seinen Hot Toddy gemacht habe. Unser Auflauf steht ungegessen im Ofen.
»Wieso? Hast du Schüler da, Sonia? Wann können wir uns treffen? Ich muss wirklich reden.«
»Es tut mir leid, Helen, ich …«
Dann sagt sie etwas, das meine Meinung ändert.
»Alicia will dich auch kennenlernen. Jez’ Freundin. Sie weiß etwas über Jez. Ich glaube, sie steht kurz davor herauszufinden, was mit ihm passiert ist.«
»Was hat das mit mir zu tun? Wieso will sie sich mit mir treffen?«
»Tut mir leid, wenn wir dich stören. Aber wir glauben beide, dass du vielleicht helfen kannst. Sei bitte nicht böse.«
»Ich bin nicht böse, Helen. Ich habe nur gefragt, warum ich? Was hat das mit mir zu tun?«
»Bist du doch, du bist gereizt. Das wollte ich nicht. Ich weiß, das ist dir lästig. Nur hat sie was von Jez ganz in der Nähe deines Hauses gefunden, und sie meint, du hast ihn an dem Tag, an dem er verschwunden ist, vielleicht gesehen, ohne es selbst zu wissen. Sie muss wirklich mit dir reden, Sonia. Und ich auch.«
Ich hole tief Luft. Habe ich wütend geklungen? Normalerweise achte ich genau darauf, meine Stimme zu mäßigen.
»Wo wollt ihr euch mit mir treffen?«, frage ich. »Eine Stunde hätte ich für euch. Aber hier geht es nicht. Ich bekomme nachher noch Besuch.«
»Im Anchor? Das ist gleich bei dir um die Ecke, damit stehlen wir dir nicht zu viel von deinem Abend. Ich könnte in zehn Minuten da sein. Wie sieht es bei dir aus?«
»Meinetwegen. Lieber früher als später«, sage ich. »Wir treffen uns da.«
K APITEL E INUNDDREISSIG
Montagabend
Sonia
Vor einer Weile wäre der Anchor um diese Zeit, am frühen Montagabend, stickig vom Rauch und voller Männer in grauen Anzügen gewesen, die sich gegen die Bierbäuche gerempelt wären. Jetzt ist es kahl und kalt und riecht durchdringend nach antibakteriellem Putzmittel. Die Gesichter der Männer sehen mehr oder minder aus wie immer, nur ihre Bäuche scheinen flacher zu sein. Mir fehlt der Rauch. Dieses Flair des Verbotenen, den er Pubs nach Feierabend verlieh. Der Dunst. Das Gefühl, dass uns, so erschöpft wir auch sein mochten, nach der Arbeit das Versprechen einer freieren Welt erwartete. Was soll das Rauchverbot? Man sieht doch, was aus den Pubs geworden ist. Saubergeschrubbt. Desinfiziert.
An der Bar kann ich Helen nicht entdecken, vielleicht ist sie zum Speisesaal durchgegangen, der auf den Fluss blickt. Nach dem, was sie mir gerade am Telefon über Alicia erzählt hat, fühle ich mich unwirklich, als stünde ich außerhalb meines Körpers. Aber manchmal hilft dieser überspannte Zustand, klarer zu denken. Was sie sagen, kann mir helfen, eine vernünftige Entscheidung darüber zu treffen, ob, wann und wie ich Jez gehen lasse.
Als Helen auch nicht im Speisezimmer ist, werde ich langsam ungeduldig. Ich frage mich, warum sie heute nicht arbeitet. Ich gehe zurück an die Bar und bestelle einen doppelten Whisky. Normalerweise trinke ich nichts Hochprozentiges, doch ich habe das Gefühl, dass ich es brauchen werde.
»Du trinkst ja was!«
Ich drehe mich um. »Helen!«
»Das ist Alicia.«
Neben Helen steht ein dünnes, dunkelhaariges Mädchen mit einem Nasenring und einer Lücke zwischen den Vorderzähnen. So jung sie ist, scheint sie das Leben irgendwie überzuhaben. Trotz des Wetters trägt sie ein T-Shirt mit dem Coverbild von Tim Buckleys Album »Works in Progress« auf der Brust. Ich erkenne es sofort, weil es auch auf dem Button ist, den Jez an seinem Kapuzenpulli trägt. Das Bild auf dem Album, das er sich von Greg leihen wollte.
»Meine rechte Hand und Trostspenderin. Dabei macht sie gerade auch die Hölle durch, wie du dir denken kannst. Sie schlägt sich unglaublich wacker. Wo du schon an der Bar bist, Süße, besorg mir doch einen großen Sauvignon, ja? Ich zahle die nächste Runde. Was möchtest du
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