Ich beschütze dich
trinken, Alicia?«
Das Mädchen zuckt mit den Schultern.
»Sag ruhig. Wenn du mit uns zusammen bist, fragt niemand nach deinem Ausweis«, sagt Helen, was ich bezweifle, denn das Mädchen, das meiner dunklen Erinnerung nach fünfzehn ist, sieht aus wie zwölf.
»Ich trinke nicht.« Das Mädchen zuckt wieder mit den Schultern und verzieht mürrisch das Gesicht.
»Dann was ohne Alkohol. Ein J2O? Ein 7 Up? Eine Cola? Du musst doch bei Kräften bleiben. Oder, Sonia?«
»Ja, sicher«, sage ich.
»Ich nehme einen Grapefruitsaft mit Tonic light und eine Tüte Worcestersauce-Chips«, sagt sie missmutig, ohne mich auch nur anzusehen. Ich würde sie zu gerne korrigieren. Sie nimmt keinen Grapefruitsaft, sie hätte gerne einen, wenn es Sonia nichts ausmacht, bitte und vielen Dank.
Wir setzen uns ans Fenster. Der Fluss draußen ist unruhig. Nach dem schönen Anfang ist das Wetter umgeschlagen, in der anbrechenden Dämmerung haben sich die Wolken zugezogen, und Wind ist aufgekommen. Draußen hinter dem Fenster ist alles monochrom geworden, das schlammige Wasser, der bleierne Himmel, die braunen Häuser am anderen Ufer, die grauen Meeresvögel, die auf den Wellen dümpeln. Was früher einmal die Terrasse des Pubs war, wurde vor langer Zeit von einem Sturm abgerissen und liegt nun ein Stück weiter im Fluss vertäut als eigenartige, hölzerne Erinnerung an die Zeit, als die Leute sich darauf lachend und trinkend den Abend vertrieben. Das trübe Wasser schwappt über die verdreckten, braunen Kanten, und die früher hübsch geschnitzten Geländerpfosten ringsum sind zerfurcht. Von den Gezeiten zerfressen.
»Deshalb glaube ich, dass sich in den nächsten vierundzwanzig Stunden was tun könnte.«
»Was?«
»Du hast mir überhaupt nicht zugehört, oder, Sonia? Was lenkt dich ab? Du hast eine halbe Ewigkeit nach draußen gestarrt.«
Das Podest. Das hat mich abgelenkt. Der Tag, an dem ich sie auf dem Floß gesehen habe. Ich war hier! Hier vor dem Anchor, stand auf genau diesem Podest und wartete, wartete auf Seb. Beugte mich vor, starrte den Fluss hinauf und wartete darauf, dass er zu mir zurückkam.
Durch meinen Kopf marschieren Bilder wie die Figuren aus Fantasia , groteske Karikaturen der Menschen, die an diesem Tag in das Flusshaus kamen. Meine Mutter war natürlich da, groß und hochmütig, ihre Dauerwelle zu einem riesigen Vogelnest auf ihrem Kopf verzerrt, die Lippen rosa, und neben ihr das Paar, das sie als Joyce und Roger aus dem Chor vorstellte. Joyce war breit und plump, Roger schmal und drahtig, und zwischen ihnen stand …
»Sonia, das ist Jasmine.«
Jasmine war im Gegensatz zu ihren Eltern perfekt proportioniert. Jasmine hatte langes, butterblondes Haar und mandelförmige, grasgrüne Augen. Sie war etwa so alt wie ich, aber größer und weiter entwickelt, und in meiner Vorstellung werden ihre Augen größer und ihre Wimpern länger und ihr Blick durchdringender, als sie tatsächlich sein konnten. Sie trug ein Baumwollkleid mit winzigen Spaghettiträgern und Knöpfen an der Vorderseite, die wie Gänseblümchen aussahen. Ihre Haare lockten sich um sie wie das Haar einer Meerjungfrau in einem Märchen, lange Strähnen wanden sich um ihren Körper und strahlten goldgelb, bis sie mich beinahe blendeten. Ich stand im Wohnzimmer und starrte unseren Besuch an, bis meine Mutter sagte, ich solle nicht so dumm herumstehen und Jasmine etwas zu trinken holen.
Als Seb mich von der Tür in der Mauer aus rief, ging ich erleichtert zu ihm. Seine Hose war nass und schlammig, er hatte sie bis über die Knie hochgekrempelt, weil er wieder an unserem Floß herumhantiert hatte. Die Haare standen ihm wild zu Berge. Er war barfuß. Zwischen seinen Zehen trocknete Schlamm. Er wollte mich abholen.
»Ich brauche dich, Sonia. Ein technisches Problem mit Tamasa .«
»Wir haben Besuch. Ich kann jetzt nicht rauskommen.«
»Dann komme ich rein und sage Hallo«, meinte er, und ohne auf ein Ja von mir zu warten, folgte er mir ins Wohnzimmer. Jasmine fixierte ihn sofort mit ihren grünen Augen.
Und er biss an. Er konnte den Blick nicht losreißen. Er zog leicht die Mundwinkel nach oben, und mich sah er danach nicht mal mehr an.
»Jasmine«, sagte meine Mutter mit gekünstelt zuckersüßer Stimme, »das ist Sebastian.«
»Hi«, sagte er.
Jasmine lächelte ihn an. »Hi.«
Meine Mutter setzte sich auf das Sofa und schenkte Jasmines Eltern Tee ein. Ihr Vater fragte: »Wobei hast du dich denn so mit Schlamm beschmiert, Sebastian?«
»Ach,
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