Ich bin alt und brauche das Geld
ergründen, worum es sich handeln könnte.
Das wurde mir dann ein paar Stunden später ganz von alleine klar. Ich erwachte von einer Schießerei, die ganz in der Nähe stattfand. Mit einem Ruck fuhr ich hoch und starrte desorientiert in die Dunkelheit. Einen Moment lang wusste ich nicht, wo ich mich befand – bei Doro auf dem Sofa, im Haus von Klaus oder in meiner alten Wohnung in Kassel. Dann fiel mir ein, dass ich seit Neuestem in einem Mietshaus in Bornheim wohnte und Kinder zu Besuch hatte, und nebenan wurde nicht geschossen, sondern nur ferngesehen. Was auch nicht viel besser war, schließlich war es – ich warf einen Blick auf meinen Wecker – zwei Uhr nachts. Ich kämpfte mich aus dem Bett und stolperte über ein paar Einzelteile von Pax (meinem neuen Kleiderschrank) hinüber ins Wohnzimmer. Im Fernseher lief ein Uralt-Streifen mit Sylvester Stallone, der mit Stirnband, geschwärztem Gesicht und blutigem Unterhemd durch den Urwald rannte und dabei mit einer Maschinenpistole um sich ballerte. Vor dem Bildschirm hockte Paula auf dem Poäng-Polster und schaute mit großen Augen Sylvester beim Dschungelkampf zu.
»Der Mann hat ganz viele Leute erschossen«, sagte sie mit zittriger Stimme, als ich ihr die Fernbedienung wegnahm und den Kasten ausmachte. »Das war gruselig.«
»Das sieht nur so aus.« Ich flüsterte, um Mäxchen nicht zu wecken, der tief und fest in seinem Bettchen schlief. »In Wahrheit schießt er gar nicht, weil es nur ein Film ist. Das war bloß ein Spielzeuggewehr.«
»Weiß ich doch«, sagte Paulinchen. In ihren Augen glänzte es plötzlich verdächtig feucht, und ihre Unterlippe zitterte. »Will Papa eine neue Frau heiraten?«, platzte es aus ihr heraus. »Hat unser neues Baby dann keinen Papa mehr? Vielleicht will Mama ja gar nicht mehr wiederkommen! Dann sind wir ganz alleine!«
Ich erschrak über diesen unvermittelten Gefühlsausbruch. Ob sie ihre schlimmen Ahnungen aus dem Blog ihrer Mutter bezog oder ob sich schon vorher bei Jennifer zu Hause bestimmte Entwicklungen abgezeichnet hatten – so oder so war die Situation fatal, und ich hatte keine Ahnung, wie ich damit umgehen sollte, ohne zu lügen oder noch mehr Schaden anzurichten. Hastig hockte ich mich neben Paulinchen auf das Sesselpolster und nahm sie in den Arm. »Du musst dir keine Sorgen machen. Deine Mama kommt bald wieder, es ist alles in Ordnung. Und bis sie zurück ist, pass ich auf euch auf, zusammen mit Olga. Alles wird gut.« Ich strich ihr übers Haar, und es tat mir fast körperlich weh, als ich spürte, wie der zarte Brustkorb sich ruckartig unter einem tiefen, halb schluchzenden Atemzug dehnte.
»Darf ich bei dir im Bett schlafen?«, flüsterte es an meinem Ohr.
Wie konnte ich unter diesen Umständen Nein sagen? Mein Bett war nur einen Meter breit, aber eine halbe Portion wie Paulinchen würde schon noch mit reinpassen. Ich hob die Kleine hoch und trug sie nach nebenan. Im Bett kuschelte sie sich an mich und schlief auf der Stelle ein. Ich selbst lag noch eine Weile wach. Was für eine bizarre Laune des Schicksals hatte dazu geführt, dass Klaus’ Enkelkinder in meine Obhut geraten waren? Wieso hatte ich nicht mit der Beerdigung einfach alles, was mit ihm zu tun hatte, für immer hinter mir lassen können? Ich bemühte mich nach Kräften, das schmerzliche Ziehen zu ignorieren, das sich bei diesen Gedanken in mir ausbreitete.
Irgendwann schlief ich dann doch noch ein und träumte lauter wirres Zeug, das meiste davon so verstörend, dass ich froh war, als ich wieder aufwachte. Ich war gerade dabei, Sylvester Erste Hilfe zu leisten – eine MP-Salve hatte ein klaffendes Loch an seinem Oberarm hinterlassen, und ich versuchte irgendwie, die Blutung mit seinem Stirnband und ein paar gelben Legoklötzchen zu stillen –, als ein Kopfschuss aus dem Hinterhalt mich außer Gefecht setzte. Ich stöhnte – zum Glück war es nur ein Streifschuss – und schlug die Augen auf. Sylvester hatte sich in einen blondlockigen Knirps verwandelt, der dicht neben meiner Schulter hockte und ein Gebilde aus gelben Legosteinen über meinem Gesicht hin und her schwenkte. Der kleine Mund klappte auf und zu und produzierte sirenenartige Geräusche von mindestens hundert Dezibel. » Wiiiiiwiiiii! Hier kommt mein Raumsssiff!«
Bevor es erneut zur Landung auf meinem Kopf ansetzen konnte, stemmte ich mich hoch und bewahrte Mäxchen gerade noch davor, aus meinem Bett zu fallen.
Dabei stellte ich fest, dass seine Windel übergelaufen war.
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