Ich bin alt und brauche das Geld
brachte kein Wort heraus, da ich vollauf damit beschäftigt war, um Fassung zu ringen. Was schon deswegen nicht auf Anhieb klappte, weil der junge Mann, der da verstrubbelt und verschlafen aus Olgas Kämmerchen kam, splitterfasernackt war.
»Morgen«, sagte er gähnend.
»Morgen«, stammelte ich zurück.
»Soll mir recht sein«, meinte Herr Meyer. »Ich rufe am besten kurz vorher noch mal an, damit Sie auch zu Hause sind.«
»Was? Äh, nein«, sagte ich schnell. »Diese Woche ist es ganz schlecht. Ich melde mich bei Ihnen, wenn noch mal was sein sollte. Wiedersehen.« Während ich die Verbindung trennte, sah ich gerade noch, wie der nackte junge Mann im Bad verschwand.
*
»Du bist viel zu nachsichtig«, sagte Adrian, als wir eine halbe Stunde später im Hinterhof standen und den Kindern beim Spielen zusahen. Ich war mit Paula und Mäxchen aus der Wohnung geflüchtet, damit ihre unschuldigen Kinderseelen nicht durch denselben Anblick traumatisiert wurden, der mir zuteilgeworden war. Beim Rausgehen hatte ich Olga gebeten, für eine angemessene Bekleidung ihres Übernachtungsgastes zu sorgen, hilfsweise dafür, dass er schnellstmöglich verschwand.
»Schließlich ist es deine Wohnung«, sagte Adrian. »Außer dir kann niemand bestimmen, wer dort schläft. Du hättest dem Burschen ruhig mal die Meinung sagen können.«
»Im Prinzip schon«, stimmte ich zu. »Sicher hätte ich das auch getan, wenn er nicht nackt gewesen wäre. Und falls du jetzt denkst, dass Lady Godiva sich nicht so prüde angestellt hätte, hast du wahrscheinlich recht, aber sie musste auch nicht auf zwei kleine Kinder aufpassen. Die ihre Augen und Ohren überall haben und garantiert bei nächster Gelegenheit im Kindergarten und auch sonst überall erzählen würden, dass ein nackter Mann in meiner Wohnung herumläuft.« Ich sah auf meine Uhr. »Inzwischen dürfte er weg sein. Wenn du willst, könnten wir mit dem Renovieren weitermachen.« Ehrlich fügte ich hinzu: »Aber im Moment würde ich lieber noch ein bisschen hier draußen bleiben. Die Kinder brauchen frische Luft, und beim Tapezieren sind sie sowieso bloß im Weg.«
»Kein Problem«, sagte Adrian. »Die Tapete läuft uns schließlich nicht weg. Die Kinder bleiben ja nur noch bis morgen bei dir, dann haben wir freie Bahn.« Er grinste. »Tapetenbahn.«
Unter anderen Umständen hätte ich das kleine Wortspiel ebenfalls amüsant finden können, aber im Augenblick wuchs mir alles etwas über den Kopf. »Momentan sieht es eher so aus, als würden sie noch länger bei mir bleiben müssen.«
»Das klingt ziemlich … beunruhigend. So, als würde nicht bloß ein fehlender Reisepass, sondern ein wirklich ernster Grund dahinterstecken.« Adrian musterte mich fragend. »Musste Jennifer etwa plötzlich ins Krankenhaus? Kriegt sie schon das Kind? Bleibt sie deshalb länger in London?«
»Nein, das ist nicht der Grund. Das wäre außerdem nur halb so schlimm, denn bis zu ihrem regulären Geburtstermin dauert es sowieso nicht mehr lange. Darüber mache ich mir keine Sorgen.«
»Sondern eher worüber?«
»Das sage ich dir lieber nicht, denn am Ende schreibst du es noch in dein Drehbuch.«
»Glaubst du wirklich, ich täte das ohne deine Zustimmung?«
Diese Frage hörte sich ein wenig verletzt an.
»Ich weiß nicht«, sagte ich verunsichert.
Er sah mich unverwandt an. »Charlotte.« Mehr sagte er nicht, nur dieses eine Wort, und das klang so aufrichtig besorgt und teilnahmsvoll, dass ich im nächsten Augenblick einfach mit allem heraussprudelte. Sunday mit Doppel-D, der untreue Mark, sogar das Handy-Foto – ich hielt mit nichts hinterm Berg. Und wo ich schon dabei war, erzählte ich ihm auch gleich von jenem anderen, früheren Handy-Foto. Dem, das den Urknall ausgelöst hatte.
Dabei schaute ich ihn nicht an, sondern starrte zu den Kindern hinüber. Ich sah, wie einträchtig Paulinchen und Mäxchen mit den Ansari-Kindern spielten. Ayaan und Tabish – ich konnte die beiden immer noch nicht auseinanderhalten – karrten Mäxchen mit vereinten Kräften in einem Bollerwagen herum und bewegten sich dabei kreuz und quer über den Hof. Alle drei kreischten vor Vergnügen. Paulinchen saß zusammen mit zwei der Ansari-Mädchen um einen umgedrehten Pappkarton herum, den sie mit Puppengeschirr gedeckt hatten. Die klassische Rollenverteilung, genau wie im wirklichen Leben. Die Jungs mochten schnelle Autos, die Mädchen Kaffeeklatsch mit Freundinnen.
All diese Nebensächlichkeiten gingen mir verschwommen
Weitere Kostenlose Bücher