Ich bin an deiner Seite
Mutter nicht mehr da war und auch nicht zurückkam, ganz egal, wie sehr Mattie sie liebte und sich danach sehnte, neben ihr zu liegen.
Der Nebel lichtete sich, und Mattie konnte die Berge über sich sehen, die grün und hügelig waren. Sie hätte sie gerne gemalt, aber sie wollte nicht, dass ihr Zeichenblock nass wurde oder dass sie langsamer vorankamen. Deshalb versuchte sie, sich die Gipfel einzuprägen, um sie später am Tag zu zeichnen. Sie fragte sich, wie es wohl war, von so einem hohen Punkt hinunterzublicken. Kannst du mich sehen, Mami?, fragte sie stumm und blickte in den Himmel. Ich habe gestern Nacht von dir geträumt. Wir haben Fußball gespielt, und du hast mich wie immer gewinnen lassen. Oh, Mami. Ich vermisse dich so sehr. Ich weiß, dass Papa das auch tut. Wir vermissen und wir lieben dich, und ich wünschte, du könntest zu uns zurückkommen. Bitte komm zu uns zurück. Bitte. Ich will nicht so allein sein. Papa gibt sein Bestes, um mich zum Lachen zu bringen, und manchmal tue ich das, aber wir sind trotzdem manchmal so furchtbar einsam.
Der Himmel wurde dunkler, und Wolken verhüllten die Gipfel. Mattie ging weiter, atmete durch die Nase und spürte, wie die Nässe in ihre Kleider drang. Dreißig Schritte hinter ihr ging Ian mit Leslie und spürte, in welcher Stimmung Mattie war – er wollte ihr helfen, aber im Moment wusste er nicht, wie. »Darf ich dich etwas fragen?«, wandte er sich leise an Leslie, die gerade ihren Regenschirm schloss, weil es nicht mehr so stark regnete.
Sie hängte den Schirm seitlich an ihren Rucksack und drehte sich zu ihm um. »Schieß los.«
»An was hast du gedacht … als Mädchen … als du so alt warst wie Mattie? Weißt du das noch?«
»Na ja, ich glaube nicht, dass ich an besonders viel gedacht habe … Ich habe mit meinem Freundinnen gespielt und bin zur Schule gegangen.«
»Erinnerst du dich, ob du traurig warst?«
»Nein, nicht wirklich. Ich weiß noch, dass ich sauer war, auf meine Freunde, auf meinen Bruder. Ich war verletzt, aber das ist nicht das Gleiche wie traurig.«
Ian nickte und beobachtete Mattie, die neben Tiffany und Blake ging, aber schwieg. »Manchmal mache ich mir Sorgen, dass Mattie zu viel nachdenkt«, sagte er und wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Ich möchte, dass sie einfach ein kleines Mädchen ist und tut, was kleine Mädchen normalerweise tun.«
»Gestern hat sie sich wie ein kleines Mädchen verhalten, als ihr auf dem Boden lagt und du sie gekitzelt hast.«
»Ich schätze, ja. Aber sie hatte letzte Nacht einen Traum, einen wunderschönen Traum von ihrer Mutter, und jetzt habe ich das Gefühl, dass alles wieder von vorne anfängt, so wie immer. Sie ist traurig. Sie vermisst ihre Mutter. Und ich kann ihr nicht alles geben, was sie braucht. Zur Hölle, ich bin nicht mal nah dran.«
Leslies Wanderstock war zwischen zwei Steinen stecken geblieben, und sie blieb stehen, um ihn herauszuziehen. »Weißt du, du solltest dir keine Sorgen machen, weil sie an einem Tag noch gelacht hat und am nächsten traurig ist. Wenn sie gar nicht gelacht hätte – dann müsstest du dir Sorgen machen.«
Er roch verbranntes Holz und blickte sich auf der Suche nach Rauch um. »Würdest du etwas für mich tun?«
»Was?«
»Würdest du mal zu ihr gehen und mit ihr reden? Sie hat sich gestern Abend nach dir erkundigt, bevor wir ins Bett gingen. Sie mag dich. Sehr sogar.«
Leslie nickte. »Sie ist ein tolles Mädchen. Ein ganz tolles Mädchen.«
»Vielleicht schaffst du es, sie zum Lachen zu bringen.«
»Sicher. Aber du solltest auch dazukommen. Sie mag mich vielleicht, aber es ist ziemlich offensichtlich, dass sie dich anbetet.«
Ian bedankte sich bei ihr und beobachtete, wie sie zu Mattie aufschloss. Er und Kate hatten solche Leute oft auf ihren Reisen um die Welt getroffen – Fremde, mit denen sie sich sofort gut verstanden und denen sie vertraut hatten. Gemeinsam zu wandern oder Bus zu fahren verband Leute irgendwie, vielleicht, weil die massive, überwältigende Komplexität der Welt sich verdichtete und Fremde an einem Ort oder zu einem Abenteuer zusammenbrachte. Kate und er hatten oft darüber gesprochen, dass sie das Gefühl hatten, mit zwei Mitreisenden aus Schweden oder Südafrika mehr gemeinsam zu haben als mit ihren eigenen Nachbarn in Manhattan. Das Reisen hatte Ian immer das Gefühl gegeben, sehr menschlich zu sein, als würde er, wenn er mit einem Fremden ein Stück des Weges ging, ein Stück von sich, von seiner eigenen
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