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Ich bin an deiner Seite

Ich bin an deiner Seite

Titel: Ich bin an deiner Seite Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Shors
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diejenigen, die schon im Himmel waren – sie alle liebten ihre Werke genauso sehr wie ihr Vater jenes erste Bild auf dem Felsen geliebt hatte.«
    Mattie lächelte und legte den Kopf auf ihren ausgestreckten Arm. »Vielleicht kann ich mir Kreide besorgen, Papa«, sagte sie und ihre Stimme klang weich und leise. »Dann könnte ich auf einen Felsen malen, so wie sie.«
    »Wenn du das möchtest. Was immer du möchtest.«
    »Schlaf schön, Papa. Ich hab dich sehr lieb.«
    »Ich dich auch, Ru. Ich liebe dich so, wie das Mädchen ihre Kreide geliebt hat.«
    Mattie schloss die Augen und stellte sich das Mädchen in der Geschichte vor. Sie fragte sich, wie es sein würde, auf einen Felsen zu malen und sich dann hinzusetzen und zuzusehen, wie Wasser vom Himmel fiel und das Bild wegwusch, das man eben geschaffen hatte.
***
    Als hätten ihre Gedanken ihn gerufen, setzte am nächsten Tag Regen ein und hüllte das Tal in einen Nebel, der Mattie das Gefühl gab, in einer Wolke aufgewacht zu sein. Nachdem sie gefrühstückt hatten, packten Ian und sie ihre Sachen zusammen, zogen ihre violetten Ponchos über und traten hinaus in die Elemente. Auf der anderen Seite des schlammigen Weges warteten bereits Leslie, Blake und Tiffany auf sie. Die Frauen trugen ebenfalls übergroße Ponchos, die sogar ihre Rucksäcke bedeckten. Leslie hielt einen roten Regenschirm in der Hand.
    »Guten Morgen, meine Damen«, sagte Ian und tippte an seinen Wanderhut. »Bereit für die Reise?«
    Leslie lächelte unter ihrem Regenschirm. »Wie war eure Nacht?«
    »Na ja, wir waren ziemlich fertig von der Wanderung und haben geschlafen wie die Murmeltiere. Ru hier hat sogar ein bisschen geschnarcht.«
    »Papa.«
    »Oder vielleicht war ich das auch. Oder vielleicht war es der Schneeleopard unter Rus Bett. Egal, sollen wir aufbrechen?«
    Leslie bedeutete Mattie, voranzugehen. »Wir folgen dir.«
    Mattie versuchte zu lächeln und lief los. Sie umklammerte den Ehering ihrer Urgroßmutter und schob ihn auf ihrem Daumen hoch und runter. Sie war froh über den Regen, denn so musste sie ihre Tränen nicht verbergen. Sie war aus einem Traum aufgewacht, in dem sie mit ihrer Mutter im Central Park Fußball gespielt hatte. So wie im richtigen Leben hatte ihre Mutter sie gewinnen lassen, denn Mattie war im Sport nicht besonders gut. In dem Traum war Mattie so glücklich gewesen, hatte mit ihrer Mutter gelacht und es genossen, mit ihr zusammen zu sein. Als Mattie die Augen öffnete, war sie am Boden zerstört gewesen, als ihr klar wurde, dass sie geträumt hatte. Die Sonne und der Central Park und ihre Mutter waren verschwunden, ersetzt durch Stille und Traurigkeit. Ihr Vater hatte ihre gedrückte Stimmung bemerkt und sie nach dem Grund dafür gefragt, aber Mattie wollte nicht reden. Manchmal war es leichter, einfach zu schweigen, die Träume zu vergessen und weiterzugehen.
    Weil ihr Vater am Samstag meistens gearbeitet hatte, waren Mattie und ihre Mutter oft in den Central Park gegangen, um spazieren zu gehen, Fußball zu spielen oder einfach im Gras zu sitzen und den Tag zu vertrödeln. Während ihre Mutter las, hatte Mattie oft gemalt, hatte versucht, eine Brücke, eine Wolke oder ein Blatt auf Papier festzuhalten. Die Tage waren ihr niemals lang geworden. Manchmal hatten sie sich unterhalten, während sie zeichnete. Mattie war sich immer bewusst gewesen, dass ihre Mutter ihr wirklich zuhörte, anders als so viele andere Erwachsene. Die Fragen, die ihre Mutter ihr gestellt hatte, waren nicht einfach nur ein Weg, das Schweigen zu brechen und sich die Zeit zu vertreiben, sondern Versuche, sie besser zu verstehen. Sie hatten über alles gesprochen, von Matties Wunsch nach einer kleinen Schwester, über Probleme in der Schule bis hin zu der Frage, wie die großen Künstler die Welt sahen. Manchmal hatte ihre Mutter Mattie sogar Geheimnisse verraten – dass sie sich noch ein weiteres Kind wünschte, obwohl sie keine mehr bekommen konnte. Es waren Mattie und ihre Mutter gewesen, die zuerst darüber gesprochen hatten, ein Mädchen aus einem anderen Land zu adoptieren, etwas, das ihr Vater unterstützte, aber vielleicht nicht aktiv verfolgt hätte.
    Jetzt, als Tiffany und Blake neben Mattie liefen und sich über Kathmandu unterhielten, sah sie auf den Weg und stellte sich vor, wie ihre Mutter dieselben Berge hinaufgewandert war. Sie vermisste ihre Mutter jeden einzelnen Tag, aber vor allem vermisste sie sie nach den Träumen – wenn sie aufwachte und ihr klar wurde, dass ihre

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