Ich bin an deiner Seite
von Agra bereits voller Leben. Sie wimmelten von Rikschas, Autos, Lastwagen, Motorrädern, Fahrrädern, Kühen, Ochsen und Eseln. Die Bürgersteige waren ebenfalls angefüllt mit allen Anblicken, die man sich vorstellen konnte – Schlangenbeschwörer, die Touristen unterhielten, Männer, die auf Kisten saßen und sich von geschäftstüchtigen Barbieren die Gesichter rasieren ließen, Obsthändler mit Turban, die so heruntergekommen aussahen wie ihre altersschwachen Kisten.
Dreistöckige Gebäude schienen sich über die Straßen zu lehnen, auf denen Zeitungen, Plastiktüten und verrottende Lebensmittel lagen. Die Luftverschmutzung und die Zeit hatten die Häuser alle einen Ton dunkler gefärbt, als sie es ursprünglich gewesen waren. An fast allen Fassaden gab es Balkone, die auf einer Ebene waren, sodass jemand von einer Veranda zur nächsten hätte springen können. Unter den Balkonen schützten Markisen die Stände vor den Elementen. Holz- und Stahlschilder wiesen auf Werkstätten, Restaurants, Buchhandlungen, Postfilialen und Polizeiwachen hin.
Tausende von Menschen schienen jeden Block der Stadt zu besetzen. Hindu-Frauen sah man in bunten Saris, während die Musliminnen in Roben und Kopftücher gehüllt waren. Schulkinder liefen in grünbraunen Uniformen herum. Die Männer trugen keine Shorts, sondern entschieden sich stattdessen für helle Hosen und Hemden.
Die Stadt war wie ein unendlich großer Supermarkt mit Verkäufern, die ihre Waren am Straßenrand stapelten. Frauen feilschten mit Ladenbesitzern, während Männer vorbeiliefen. Weil Kühe den Hindus heilig waren und sich frei in der Stadt bewegen durften, standen ein oder zwei oft in Gassen oder manchmal sogar auf den Hauptstraßen.
Ian und Mattie sogen diese Eindrücke in sich auf, genau wie sie es in den vergangenen Tagen getan hatten. Ian sah oft auf seine Uhr, weil er das Tadsch Mahal erreichen wollte, wenn es gerade öffnete, bevor die Horden von Touristen kamen. Er und Kate hatten damals das Glück gehabt, dass sie das Tadsch ganz für sich allein hatten, wenn auch nur für ein paar Minuten. Und er wollte Mattie die gleiche Erfahrung bieten.
Der Rikscha-Fahrer fuhr weiter durch das Chaos, als wäre er eine Schlange, die durch hohes Gras kroch. Endlich fädelte er sich vor einem Bus ein und hielt an einer Stelle an, die wie ein besonders voller und verrückter Teil der Stadt wirkte. Ian kam die Gegend vage bekannt vor. Er stieg aus der Rikscha, bezahlte den Fahrer, nahm Matties Hand und führte sie zu einem der Weltwunder.
Der Haupteingang zum Tadsch Mahal war ein dreißig Meter hohes Sandstein-Bauwerk, das aussah wie eine riesige rotweiße Tür. Die Tür selbst war ein aus dem Sandstein gehöhlter Bogen und sollte dem Auge schmeicheln, denn sie war hinten geschlossen, abgesehen von einer kleinen, gewölbten Öffnung ganz unten. Über dem Hauptbogen bildeten Halbedelsteine Hindu-Motive – rote Lotusblumen, Ranken und Blätter. Verse aus dem Koran, basierend auf den Arbeiten der berühmtesten arabischen Kalligraphen mit schwarzen Steinen gesetzt, verliefen entlang des rechteckigen Rahmens um den Haupteingang.
Ian blickte erneut auf seine Uhr und erkannte zufrieden, dass das Tadsch Mahal gerade erst geöffnet hatte. Er bezahlte das symbolische Eintrittsgeld und trat mit Mattie durch den Haupteingang. Innen veränderte sich alles sofort. Verschwunden war das Chaos der Stadt Agra. Stattdessen liefen üppig begrünte, von Reihen von Zypressen durchzogene Gärten auf das Tadsch Mahal in der Ferne zu. Die Gärten waren geometrisch angelegt und wurden von zwei Marmorkanälen in Quadrate unterteilt. In dem ungewöhnlich langen Wasserbecken vor dem Mausoleum erschien das Spiegelbild des Tadsch Mahal.
»Oh mein Gott«, flüsterte Mattie und drückte die Hand ihres Vaters.
Der Himmel hinter dem Mausoleum war erstaunlich klar und blau und ließ den weißen Marmor des Tadsch Mahal aussehen, als strahlte er von innen heraus. Das Mausoleum selbst, immer noch weit entfernt, wirkte fast wie eine Luftspiegelung in der Wüste. Der Aufbau war zu perfekt und makellos, um auf dem gleichen Boden zu stehen wie die Läden draußen. Obwohl das Tadsch Mahal so hoch war wie ein zwanzigstöckiges Gebäude und viel größer, als Mattie erwartet hatte, dominierte es die Szene, die sie sah, nicht durch seine gewaltigen Ausmaße. Es bannte ihren Blick eher durch seine Anmut und Eleganz. Für sie sah das Tadsch Mahal aus wie ein Traum, eine Illusion aus Licht.
»Es wurde in
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